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Warum Sie nicht moralisch für Barrierefreiheit argumentieren, sollten

Das moralische Argument ist mausetot. Ich muss es leider so klar sagen. Täglich werden wir von moralischen Appellen überschüttet, die uns bestenfalls nachdenklich, meistens aber peripher tangiert zurücklassen. Ich selbst mache sehr schnell zu, wenn mir jemand mit moralischen Argumenten kommt, selbst wenn ich das grundsätzliche Anliegen für richtig halte.

Ein moralisches Argument ist, dass man Barrierefreiheit umsetzen muss, weil es einfach richtig ist, sie umzusetzen. Nicht moralisch ist hingegen der Hinweis, dass jede Person einen gleichberechtigten Zugang haben sollte, zumindest wenn wir über den gleichen Zugang zu Informationen und Leistungen sprechen. Eine demokratische Gesellschaft muss den gleichberechtigten Zugang für alle anstreben, das ist auch in diversen völkerrechtlichen Verträgen und im deutschen Recht verankert, es ist also keine rein normative Aufgabe. Chancen-Gleichheit muss gewährleistet sein, nicht aber die soziale Gleichheit, also dass alle das Gleiche verdienen, die gleiche Wohnfläche haben oder Ähnliches.

Moralisch zu handeln ist natürlich sinnvoll. Das Problem ist, dass eigentlich fast jede Person oder Institution glaubt, sie würde moralisch korrekt handeln: Die Linke, die Rechte, die FDP die Kirche, diverse Sekten und viele andere. Jede Person kann genau begründen, warum das, was sie tut moralisch adäquat ist, auch wenn es das objektiv nicht wäre. Den Müll im Park zurücklassen? „Es war leider kein Mülleimer in der Nähe, wir können das Zeug ja nicht mitnehmen, Andere lassen ihren Müll auch liegen, das räumt schon jemand weg, dafür zahlen wir doch ‚Steuern“. Barrierefreiheit? „Unter uns, das braucht doch kaum jemand, sieht kacke aus, ist teuer, schränkt unsere Gestaltungs-Möglichkeiten ein, macht viel ‚Arbeit, sagte ich schon, dass das kacke aussieht?“.

Auch mag es niemand, wenn man ihn persönlich angreift, ob dieser Angriff gerechtfertigt ist oder nicht. Wer angegriffen wird, macht in der Regel dicht oder geht zum Gegen-Angriff über. In dieser Stimmung kann man nicht mehr sinnvoll kommunizieren.

Ein moralisches Argument ist stets ein Vorwurf. Oder zumindest wird es vom Gegenüber so interpretiert. „Ich bin vegan, ich bin kein Tier-Mörder. Du bist nicht vegan, also bist du…“. Daher kommt auch der Zwang fast aller Nicht-Veganerinnen, sich zu diesem Thema positionieren zu wollen.

Du bist nie so gut, wie du denkst, dass du es bist. Wir neigen dazu, uns selbst zu idealisieren. Das ist nicht schlimm, das Gegenteil wäre schlimmer. Aber überlegen Sie selbst, ob Sie so gut sind, dass Sie als Vorbild für Andere taugen. Ist dem nicht so, sollten Sie mit solchen Argumenten vorsichtig sein.

Eine Diskussions-Bereitschaft setzt immer voraus, dass man bereit ist, den Standpunkt des Anderen zu verstehen und zu akzeptieren. Leider sind in unserem Bereich viele Personen dogmatisch und beharren auf der Korrektheit ihres Standpunktes. Dann versuchen wir sie nicht, sie mit unseren Argumenten zu überzeugen sondern indem wir den Standpunkt des Gegenübers für falsch erklären oder gar deren Integrität in Frage stellen.

Lassen Sie mich ein plastischeres Beispiel als digitale Barrierefreiheit anführen. Kennen Sie jemanden, der sagen würde, es ist okay, dass für Fleisch, Eier und Milch Tiere ausgebeutet oder getötet werden? Wahrscheinlich nicht. Sie selbst finden das bestimmt auch nicht in Ordnung. Die moralisch richtige Konsequenz wäre, so weit wie möglich auf Fleisch, Milch und Eier zu verzichten. Das tut so gut wie keiner. Fast alle sagen, sie würden weniger davon essen wollen. Und das ist insofern korrekt, dass sie ja auch mehr davon essen könnten als sie es aktuell tun. Als ich einmal ein veganes Firmen-Frühstück vorschlug, bin ich ausgelacht worden. Das heißt, viele Leute sind auch nur für eine einzige Mahlzeit, die jemand anderes bezahlt nicht bereit, auf tierische Produkte zu verzichten. Das waren übrigens Personen mit einem akademischen und digital-affinen Hintergrund, wahrscheinlich eher linksliberal und wohlinformiert über Umweltschutz und Klimawandel. Wenn man solche Leute für eine einzige relativ unwichtige Mahlzeit nicht vom Fleischtopf wegkriegt, wie soll man das dann mit anderen Menschen machen, die Klimawandel für eine Erfindung und Fleisch/Milch für lebenswichtig und eine Delikatesse halten?

Das heißt, viele Leute wissen, was das Richtige zu tun wäre und tun es nicht. Beim Veganismus ist es meistens die Bequemlichkeit, bei Ärmeren möglicherweise auch der Preis. Egal, was der Mensch tut, er neigt dazu zu rationalisieren, also Begründungen dafür zu finden, warum sein Handeln richtig ist bzw. er keine andere Wahl hat.

Beim Thema digitale Barrierefreiheit kommt ein zweiter Aspekt dazu: Der Gap zwischen beruflich und privat. Privat würde fast jede sagen, dass alle Menschen den gleichen Zugang zu Einrichtungen oder halt zur digitalen Welt haben sollten. Beruflich muss man aber viele weitere Aspekte beachten, insbesondere die Wirtschaftlichkeit.

Wir A11y-Profis sind ganz gut darin, uns wegzuducken, wenn die Kostenfrage gestellt wird. Du kannst dir keine Dolmetschung in Leichte Sprache oder Gebärdensprache leisten? Beantrag doch eine Förderung. Ach, das dauert sechs Monate und erfordert einen Papierstapel so hoch wie der Mount Everest? Wer gut sein will muss eben leiden. Ach, du bist gar nicht förderfähig? Dann lass es sein, besser nichts als 100 Prozent barrierefrei. Das spricht so niemand aus, aber denken nicht viele so?

Jede möchte moralisch korrekt handeln, möchte ich mal behaupten. Keine möchte darauf aufmerksam gemacht werden, dass sie das nicht tut. Die Gutwilligen werden zustimmen und dann doch tun, was sie vorher auch gemacht haben, vielleicht mit einem schlechten Gewissen. Der Rest wird einfach dicht machen oder das Thema sogar negativ sehen. Am Veganismus sehen wir das überdeutlich. Deswegen ist die Strategie von Organisationen wie der Letzten Generation auch kontraproduktiv, sie bewirken genau das Gegenteil von dem, was sie erreichen wollen, falls es ihr Ziel war, Leute von dem Handlungsbedarf zu überzeugen. Falls das überhaupt das Interesse ist, manchen Organisationen geht es ja nur darum, möglichst viel Aufmerksamkeit zu generieren.

Ein weiteres Problem, das ich sehe, ist, dass behinderte Menschen in solchen Kommunikationen oft zu Objekten gemacht werden, denen geholfen werden muss. Es ist das klassische Schema des Fürsorge-Gedankens: Häufig sind es ja Nicht-Behinderte, die so gegenüber anderen Nicht-Behinderten argumentieren.

Oftmals erscheint das moralische Argument auch als die letzte Zuflucht: Ihnen fällt sonst nichts ein, der moralische Zeigefinger ist schnell erhoben und man kann auch nicht vernünftig dagegen argumentieren. Kaum jemand setzt Barrierefreiheit deshalb nicht um, weil er sie blöd oder überflüssig findet. Ja, die Leute gibt es, aber in unserem Bereich sind sie selten. Sie setzen sie nicht um, weil sie sie für zu teuer, zu kompliziert und zu wenig wichtig halten, weil sie meinen, dass die Zielgruppe zu klein wäre. Sie setzen sie um, weil sie manchmal davon überzeugt, sind aber meistens, weil sie dazu verpflichtet sind. Wir überzeugen sie trotzdem davon, dass sie sinnvoll ist, das moralische Argument kommt in dieser Diskussion aber zumindest auf unserer Seite nicht vor.

Fazit: Es mag einige wenige Leute geben, die man mit moralischen Argumenten bekommt, die Mehrheit schreckt man damit eher ab. Es gibt genügend andere Argumente, die besser funktionieren. Das moralische Argument ist nicht zielführend. Im Endeffekt muss man die Argumentation immer an die Zielgruppe anpassen.

Ich habe ja mit Personen fast nur im Business-Kontext zu tun: Dort argumentiere ich vielfältig, zum Beispiel mit Wettbewerbs-Vorteilen, Kaufkraft, besserer Usability und so weiter. Moralische Argumente brauche ich eigentlich nicht.