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Die Größten Probleme des BITV-Tests

Häufig werde ich gefragt, ob ich einen BITV-Test durchführen könnte. Meine Antwort: Ich teste gerne, halte den BITV-Test aber nicht für zeitgemäß und führe ihn daher nicht mehr durch.
Der BITV-Test ist kein sinnvolles Instrument, um Barrierefreiheit zu messen und als Qualitätssiegel eingeschränkt aussagekräftig. Ebenso wenig sinnvoll sind Zertifizierungen zur Barrierefreiheit von Webseiten. Warum das so ist, erkläre ich in diesem Beitrag. Zusammenfassung meiner formalen Kritik am BITV-Test.
Hinweis: Meine Kritik zielt generell auf solche Verfahren ab, BITV-Test oder WAKA dienen hier lediglich als Beispiele, das Problem liegt generell in der Struktur der Testverfahren. Wer sich an den einschlägigen Richtlinien orientiert und Feedback von behinderten Menschen zulässt, benötigt weder Zertifizierung noch BITV-Test. Oft genug werden die Ergebnisse als Totschlagargument gegen die Kritik von Betroffenen eingesetzt.

Momentaufnahme

Ein BITV-Test kann immer nur eine Momentaufnahme sein. Am Zeitpunkt X wurde ein Test durchgeführt.
Und in der Zwischenzeit hat sich die Welt drei Mal weitergedrreht, Features wie eine Cookie-Message sind hinzugekommen, Inhalte wurden eingebettet oder entfernt, die Navigation wurde optimiert… Natürlich kann man nicht für jede Änderung einen BITV-Test durchführen, was auch wegen dem geringen Erkenntnis-Gewinn nicht sinnvoll wäre. Aber genau genommen müsste zumindest die Komponente, die geändert wurde neu überprüft werden.

Enger Fokus auf Blindheit und Sehbehinderung

Ein großer Teil der Barrierefreiheits-Szene dreht sich vor allem um das Thema Blindheit und Sehbehinderung. Deren Anforderungen sind plastisch und im Wesentlichen auch leicht umsetzbar. Ob es dann tatsächlich gemacht wird, ist eine andere Frage.
Doch was ist mit motorisch Behinderten, Autisten, geistig Behinderten und so weiter? Deren Anforderungen werden mit dem BITV-Test kaum erfasst.

Sinnfreie Kriterien

Der BITV-Test enthält leider einige Kriterien, die zu weiteren Barrieren führen:
Prüfschritt 3.1.2a
Anderssprachige Wörter und Abschnitte ausgezeichnet

Wenn innerhalb einer Seite Wörter und Textabschnitte in einer anderen Sprache vorkommen, müssen diese mithilfe des lang-Attributs ausgezeichnet werden.

Quelle
Das bezieht sich auf das WCAG-Kriterium 3.1.2

Success Criterion 3.1.2 Language of Parts
The human language of each passage or phrase in the content can be programmatically determined except for proper names, technical terms, words of indeterminate language, and words or phrases that have become part of the vernacular of the immediately surrounding text.

Quelle
Hier liegt also eine grob fahrlässige Überziehung des WCAG-Kriteriums vor. Jeder blinde Sprachausgaben-Nutzer wird Ihnen sagen, dass die Auszeichnung eizelner Begriffe als fremdsprachig extrem nervig und überflüssig ist und das Verstehen sogar einschränken kann.
Das ist heute tatsächlich hochrelevant: Gilt ein Erfolgskriterium der WCAG 2.1 als nicht bestanden, gilt die Website nicht als konform, ist also nach dieser Wertung nicht barrierefrei. Eine Website kann also schon nicht als konform gelten, wenn der Name Jane irgendwo vorkommt und nicht als Englisch ausgezeichnet wurde.
Was die DIAS GmbH sich dabei denkt, bleibt deren Geheimnis. Feedback behinderter Menschen wird dort vollständig ignoriert, wie ich aus eigener Erfahrung bestätigen kann, aber auch von anderen Behinderten gehört habe. Die DIAS ist beratungs-resistent.

Technische Barrierefreiheit ist nicht alles

Der BITV-Test prüft im Wesentlichen den technischen Unterbau einer Website. Auch das ist in Grenzen sinnvoll. Doch auch hier werden die Bedürfnisse anderer Behinderungen nicht erfasst. Sie verwenden nicht den Quellcode, sondern die visuelle Web-Oberfläche. Und ist diese nicht auf den Nutzer optimiert, ist das eine größere Barriere – im Übrigen auch für Blinde und Sehbehinderte. Insgesamt lässt der BITV-Test Fragen der Usability und Informationsarchitektur komplett außen vor.

Seiten-basierte Test-Verfahren sind nicht zeitgemäß

Ein Testverfahren, das einzelne Seiten isoliert betrachtet, ist in Zeiten nicht mehr sinnvoll, in welchen ganze Anwendungen im Browser laufen. Natürlich sollte man sich Schlüsseltemplates ansehen, doch wichtiger ist das Kernanliegen des Nutzers oder der Schlüsselprozess der Website: Sei es das Kontaktformular, ein Bestellprozess oder eine Kommentarfunktion. Wichtig ist alles, wo der Nutzer mit der Website interagieren muss. Ja, man sollte sich die wichtigsten Templates der Website anschauen, aber auch die wichtigsten Prozesse einmal durchspielen. Der BITV-Test ist aber seiten-basiert.

Der BITV-Test wird den Nutzern nicht gerecht

Während die Nutzer vor allem Smartphones und vielleicht noch Tablets verwenden, wird der BITV-Test mit Desktop-Versionen der Website durchgeführt. Nun können aber auf der mobilen Versionen andere Probleme entstehen als auf der Desktop-Version. Der BITV-Test wird also aktuellen Anforderungen nicht gerecht. Das zeigt sich auch daran, dass veraltete Browser für den Test eingesetzt werden sollen:

Die Tastaturbedienbarkeit wird zum Beispiel nur mit den beiden verbreitetsten Browsern, dem Internet Explorer und Firefox, überprüft.

Quelle
Der Internet Explorer mag in Behörden noch verbreitet sein, unter Blinden ist er es definitiv nicht, noch weniger unter anderen behinderten Menschen.

BITV-Test lädt Entwickler zum Schummeln ein

Ein fauler, aber schlauer Entwickler optimiert die Website einfach so, dass sie 100 Punkte beim BITV-Test erhält. Das ist ziemlich einfach, da das Verfahren ja offen dokumentiert ist.
Wenn der Auftragnehmer weiß, dass am Ende ein BITV-Test ansteht, wird er von vorneherein darauf setzen, dass eine möglichst ohe Punktzahl erreicht wird. Das kann, muss aber nicht zur Barrierefreiheit der Website beitragen.

Stempel drauf und fertig

Gerne werden die Erkenntnisse aus dem BITV-Test oder aus Zertifizierungen als Totschlag-Argument verwendet, wenn sich ein behinderter Mensch über die Website beschwert: Wir haben doch den BITV-Test durchgeführt. Was sollen wir noch machen?
Solche Verfahren können – auch wegen der Kosten – nur Momentaufnahmen sein. Schließlich können sie nicht bei jeder Veränderung der Seite neu durchgeführt werden. Aber was nutzt ein BITV-Test oder eine Zertifizierung einer Seite, wenn der gemessene Zustand gar nicht mehr existiert.

Geschlossene Gesellschaft

Der verantwortliche Testerkreis erscheint als geschlossene Gesellschaft. Das Testverfahren existiert schon seit mehr als zehn Jahren, dennoch gibt es nur eine Handvoll Tester und Test-Agenturen, obwohl das Thema Barrierefreiheit durch die Richtlinie 2102 enorm wichtig geworden ist.
Die Tester sind überwiegend über 50, männlich und nicht-behindert – also alles andere als divers. Ehrlich gesagt ein wenig merkwürdig, dass man behauptet, sich für Barrierefreiheit einzusetzen, aber selbst so divers ist wie ein Altherrenclub.
Man verknappt also künstlich die Tester und treibt so die Testkosten in die Höhe.

Kaum behinderte Tester

Mein Kritikpunkt ist allerdings auch, dass es kaum behinderte Personen mit Erfahrung in Hilfstechnologien gibt, welche diese Tests durchführen. Bisher habe ich nur Personen ohne Behinderung getroffen, die solche Tests verantworten. Das hat teilweise gute Gründe, doch fallen Verwendern von Hilfstechnologien zwangsläufig mehr Dinge auf als solchen ohne eine Behinderung. Einige Testskönnen zwar von Blinden oder stark Sehbehinderten nicht durchgeführt werden, einige der Schritte sind aber durchaus auch für behinderte Menschen geeignet. Die sich nebenbei gesagt damit auch eine kleine Einkommensquelle erschließen könnten. Persönlich habe ich noch keinen BITV-Tester mit Behinderung kennengelernt.

Ist der BITV-Test also sinnfrei

Der BITV-Test ist sinnvoll – in bestimmten Situationen.

  1. Er ist entwicklungsbegleitend sinnvoll, denn die Entwickler können damit Qualitätssicherung betreiben und schwerwiegende Fehler finden.
  2. Er ist als Selbsttest sinnvoll: So können Sie den Status Ihrer Website prüfen oder auch, ob die Web-Agentur generell sauber gearbeitet hat.
  3. Und er ist eine Möglichkeit, sich systematisch mit den BITV-Richtlinien zu beschäftigen. Sie sind zum Runterlesen nicht wirklich geeignet

Ungute Verquickung

Die Verbindung zwischen der federführenden Organisation hinter dem Testverfahren und der BITV-Test-Website kann mit Recht als unglücklich bezeichnet werden. Die Firma verdient ihr Geld unter anderem damit, solche Tests durchzuführen. Das ist in jedem Fall ein deutlicher Interessenskonflikt.
Wünschenswert wäre gewesen, dass das Testverfahren von einem unabhängigen, nicht-gewinn-orientierten Gremium geführt wird. So ist der Fokus all zu sehr darauf gelegt, die Besucher der Website zur Beauftragung eines BITV-Tests zu verleiten. Es ist ein wenig merkwürdig, dass die Firma auf der Seite, auf welcher der BITV-Test behandelt wird nicht nur für ihre Leistungen wirbt, sondern auch direkt ein BITV-Test bei dieser Firma angefragt werden kann.

Alternativen zum BITV-Test

Neben der Möglichkeit, den BITV-Test selbst durchzuführen, sehe ich noch zwei weitere Alternativen:

  • Eine Möglichkeit ist ein Expertentest: Er kann von einem Experten in Sachen digitale Barrierefreiheit durchgeführt werden. Wir werden hier in der Regel auf eine Mischung aus Standard-Testverfahren und heuristischer Analyse zurückgreifen. Es kommt keine so schöne Zahl wie beim BITV-Test heraus. Doch sind die Ergebnisse für die praktische Barrierefreiheit wesentlich relevanter.
  • Die zweite und bessere Möglichkeit sind Nutzer-Tests. Dies kann mit Ihren eigenen Mitarbeitern erfolgen oder im Laufenden Betrieb. Im letzteren Fall laden Sie alle Nutzer ein, Ihnen Barrieren und Probleme auf der Website mitzuteilen. Sie müssen dann Ressourcen vorhalten, um diese Meldungen zu bearbeiten sowie eventuelle Verbesserungen durchzuführen.Im Rahmen der EU-Richtlinie 2102 wären Sie ohnehin verpflichtet, Feedback-Möglichkeiten zur Barrierefreiheit anzubieten. Aber solche Angebote lassen sich auf unterschiedliche Weise gestalten, frei nach dem Motto, „Ja, gerne“ oder „Mach ruhig, ist uns egal“.

Websites sind häufig so komplex, dass Nutzertests der erkenntnisreichste, wenn auch aufwändigste Prozess sind. Stehen die Ressourcen für ein solches Testverfahren nicht zur Verfügung, sollten Sie einen Feedback-Mechanismus einrichten, über den Sie Feedback von behinderten Menschen einholen können. Ein solcher Feedback-Mechanismus ist im übrigen durch die Richtlinie EU 2016-2102 vorgeschrieben, muss also ohnehin etabliert werden. Weiterhin können Sie Ihre Mitarbeiter mit einer Behinderung, natürlich alles im Rahmen des Möglichen, für solche Tests gewinnen.
Wir haben also eine Agentur, die ordentliche Arbeit macht, die sich an die Vorgaben der WCAG/BITV gehalten hat und wir haben Nutzer-Feedback. Das ist vollkommen ausreichend. Stecken Sie also das Geld, dass Sie für den BITV-Test vorgesehen haben in den Feedback-Mechanismus, die Wartung und die Qualitätssicherung.

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