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Behinderte in wissenschaftlichen Studien


Da ich viel in Behinderten-Portalen unterwegs bin, kann ich sagen, dass es fast jeden Tag einen Aufruf gibt, an dieser oder jener Studie teilzunehmen. Schlimmer sind nur die zahllosen ePetitionen. In der Regel sind diese Studien behindertenspezifisch, zum Beispiel werden nur Sehbehinderte, nur Gehörlose oder nur Blinde befragt.
Dass sich Fragestellungen oft wiederholen – geschenkt. Ob man drei Mal eruiert, wie sich Blinde besser mit GPS orientieren können oder die 20. Masterarbeit über die Darstellung des Orients bei Goethe abfasst, kommt wohl aufs Gleiche raus. Abgesehen davon, dass diese Orientierungsstudien wirklich teuer sind und man das Geld sinnvoller einsetzen kann, aber das ist ein anderes Thema.
Ist man aber als Behinderter sozial verpflichtet, an solchen Studien teilzunehmen? Ich denke nein. Tatsächlich haben viele Studien die Intention, die Situation von Behinderten zu verbessern, indem sie Probleme wissenschaftlich belegen oder untersuchen, ob bestimmte Maßnahmen sinnvoll sind. Unabhängig davon, ob man selbst unter dem konkreten Problem leidet, kann man den Wunsch haben, dass es untersucht wird.
Das Problem besteht aber darin, dass die Wissenschaft häufig Selbstzweck ist. Das heißt, die Studie mag methodisch sauber sein, aber da der Student in der Regel nach dem Abschluss in einen Job wechselt, der nichts mit seinem Studiengeegenstand zu tun hat, landet die Arbeit als Ansichtsexemplar in der Uni-Bib, wo sie vermutlich niemanden interessieren wird, bis sie zu Staub zerfällt. Für den wissenschaftlichen Austausch spielen studentische Arbeiten nur selten eine Rolle, so dass die Ergebnisse des Studenten in der Regel nicht in den Wissenspool der Wissenschaft eingehen. Sie werden nicht in Papers diskutiert, in Zeitschriften publiziert oder als Buch veröffentlicht, wodurch sie praktisch verloren gehen. Es ist mit anderen Worten eine reine Zeitverschwendung für den Studienteilnehmer, denn dass sein Student und dessen Prof hinterher schlauer sind, löst sicher keines unserer Probleme.
Leider versanden auch millionenschwere Forschungsprojekte im Nichts. Das Glück dieser Forscher ist das extreme Kurzzeitgedächtnis im Internet, denn da jagt ein Forschungsprojekt das Nächste und kaum jemand erinnert sich daran, dass das gleiche Thema schon vor zehn Jahren erforscht wurde. Anscheinend reicht es, einen telefonbuchdicken Abschlussbericht zu veröffentlichen, die Erkenntnisse in konkrete Produkte oder Dienstleistungen zu übertragen überfordert die meisten deutschen Wissenschaftler. Da die Ergebnisse aber auch nicht öffentlich zugänglich sind, können sie auch nicht von potenteren Leuten umgesetzt werden.

Behinderte als Forschungsgegenstand

Es ist relativ schwierig, jemanden zugleich als Forschungsgegenstand und als Subjekt zu behandeln. Das wirkt immer so wie diese Forscher, die durch die Weltreisen und exotische Stämme bei ihrem Lebenswandel beobachten. Man kommt schnell in die Position des Überlegenen, der den Unterlegenen unter die Lupe nimmt. Da wird eine komplexe Gesellschaft auf Volksfeste und Balztänze reduziert. Stellt euch vor, afrikanische Forscher würden nach Deutschland kommen und den Karneval oder das Oktoberfest als Essenz der deutschen Gesellschaft darstellen. Das würden die meisten von uns unredlich finden. In der Forschung ist das die übliche Vorgehensweise.

Anforderungen

Meines Erachtens muss jede Studie/Umfrage folgende Anforderungen erfüllen:

  1. Sie muss einmalig sein. Wenn es eine vergleichbare Studie vor kurzer Zeit mit vergleichbarer Fragestellung und sauberer Methodik gegeben hat, sollte man die Studie nicht noch einmal durchführen.
  2. Die Ergebnisse müssen offen gelegt werden. Mancher Student scheint davon zu träumen, mit seiner Bachelor-Arbeit über die „Zugänglichkeit sozialer Netzwerke für Blinde“ der nächste John Grisham zu werden. Wenn es ihnen Spaß macht, soll es so sein, allerdings ist das Mindeste, die Ergebnisse der Befragungen offen zu legen, damit wie in Punkt 1 gefordert die Studie nicht von jemand anderem wiederholt wird. Und das absolute Minimum und eine Sache des Respekts ist es, den Leuten, die an der Studie teilgenommen haben die Ergebnisse mitzuteilen, sofern deren Kontaktdaten bekannt sind.
  3. Die Methodik muss wasserdicht sein. Ich habe nie viel empirisch geforscht, aber ich erkenne oft auf den ersten Blick, ob sich jemand mit Blindheit beschäftigt hat und ob die Fragen, die gestellt werden so Sinn ergeben. Das tun sie häufig nicht und oftmals erkennt man, dass der Forscher sich nicht ausreichend mit der Materie beschäftigt hat oder die Fragestellung so unscharf ist, dass sie keine brauchbaren Ergebnisse liefern wird. Wenn eine Frage in einem Online-Fragebogen absolut zwei- oder mehrdeutig ist, gibt es Schwächen in der Methodik, welche die ganze Befragung entwerten. Man kann hier korrekterweise einwenden, dass es keine gestandenen Forscher, sondern häufig junge Studenten sind. Dann stellt sich aber die Frage, ob sie sich nicht einen Forschungsgegenstand suchen sollten, dem sie gewachsen sind. Für die Qualitätskontrolle ist der Betreuer verantwortlich, außerdem kann sich der Student einen Berater aus dem Betroffenenkreis suchen, der ihn auf grobe Schnitzer aufmerksam macht.

Mehr Forscher mit Behinderung

Wie so oft muss man leider konstatieren, dass es in Deutschland zu wenige behinderte Forscher und Wissenschaftler gibt. Kurioserweise sollen rund acht Prozent der Studierenden behindert oder chronisch krank sein, aber nur ein Bruchteil der Abschlussarbeiten haben etwas mit Behinderung zu tun. Anscheinend haben die Betroffenen selbst kein Interesse daran, in diesem Bereich zu forschen.
Hinzu kommt, dass der wissenschaftliche Bereich auch finanziell nicht interessant ist. Der restliche öffentliche Dienst verspricht relativ sichere Stellen, die Wirtschaft bessere Arbeitsbedingungen. Da viele Behinderte auf soziale Sicherheit Wert legen, ist für sie vor allem der Bereich Hochschule unattraktiv. Last not least ist der Wissenschaftsbereich absolut gnadenlos, was Vetternwirtschaft angeht, wer sich nicht frühzeitig bei dem Dozenten seiner Wahl einschleimt, wird ausgesiebt, Behinderte haben dort kaum eine Chance. Komischerweise scheint man das Thema Inklusion in der Wissenschaft nicht auf dem Schirm zu haben, so dass diese ungestraft die Behindertenquote ignorieren können.
Dabei wäre es absolut sinnvoll, behinderte Forscher in diesen Bereichen stärker zu beteiligen. Ich kann mir nichts Absurderes vorstellen als einen Haufen gesunder Menschen in den besten Jahren, die sich Gedanken darüber machen, wie ein dementer Mensch mit morschen Knochen barrierefrei leben kann. Behinderten-Simulationen sind bestenfalls eine Annäherung, Befragungen können nur begrenzt erfolgreich sein.

Die Rolle der Behindertenverbände

Mir sei noch ein Wort zu der unrühmlichen Rolle erlaubt, die einige Behindertenverbände in diesem Bereich spielen. Der erste Ansprechpartner für Blinden-Forschung ist der DBSV. Er dürfte einen guten Teil seiner Mittel aus solchen Forschungsprojekten beziehen.
Für den DBSV ist das schön, für die Blinden oftmals weniger. Im Grunde hat der DBSV kein Interesse daran, überflüssige oder sinnfreie Forschungsprojekte abzulehnen, vor allem, wenn sie viel Geld bringen oder über mehrere Jahre laufen. Aus ihrer Position ist es im Gegenteil gerade sinnvoll, besonders teure, aufwendige und langfristige Projekte anzuziehen. Im DBSV gibt es zahlreiche angestellte Experten, die irgendwie beschäftigt werden müssen.
Damit ich nicht falsch verstanden werde, ich meine nicht die lokalen Vereine, die sich oft mit großem unbezahltem Engagement an lokalen Projekten beteiligen. Mir fällt allerdings auf, wie oft der DBSV an teuren Großprojekten beteiligt ist, aber nicht offenlegt, welche Zuschüsse er dafür erhält. Und es fällt auf, dass sich der Sinn solcher Projekte oft nicht erschließt, während Projekte, die einer größeren Zahl von Blinden zugutekämen oder die wesentlich günstiger wären gar nicht erwähnt werden.
Nehmen wir als Beispiel wieder GPS. Die meisten jungen Blinden haben ein Smartphone oder ein spezielles Gerät, mit dem sie die Geodaten für die Orientierung nutzen können. Die meisten älteren Blinden – und das sind wesentlich mehr – haben kein solches Gerät und viele wären damit auch absolut überfordert. Wir halten also fest: Der Bedarf an solchen Geräten ist gedeckt, ohne dass jemand einen Euro Forschungsgeld dafür in die Hand nehmen musste. Dafür gibt es zahlreiche unerforschte Bereiche: Wie kann man die Nahorientierung verbessern? Wie kann die Verletzungsprävention für ältere Blinde verbessert werden? Wie lässt sich die Ausbildung von Blindenführhunden in Deutschland verbessern, es ist ein offenes Geheimnis, dass die meisten Blindenhunde schlecht ausgebildet sind.
Natürlich wissen die Leute, die über solche Projekte entscheiden das nicht – weil sie nicht behindert sind und keine Behinderten kennen, mit denen sie sich über so etwas austauschen würden. Aber der DBSV sollte es wissen.

Das Problem der Repräsentation

Studien mit behinderten Menschen sind stets mit Problemen verbunden. Ein Kernproblem ist dabei die Repräsentativität bei quantitativ angelegten Studien.
Bei leichten Behinderungen mögen die Unterschiede relativ gering sein. Sobald man aber in den Bereich schwerer Behinderungen kommt ist die Bandbreite der Fähigkeiten so unterschiedlich, dass man durch die Vergrößerung der Testgruppe kaum an Aussagekraft gewinnt. Jeder Schwerbehinderte ist auf seine Weise behindert, jeder Blinde hat eine ganz individuelle Systemkonfiguration und Erschließungsstrategie für Inhalte, so dass sich nur schwer aussagekräftige Durchschnittswerte ermitteln lassen. Für jemanden, der seine Arme nicht bewegen kann sieht die Situation gleich ganz anders aus als für jemanden, der eine Spastik im Arm hat.
In der Forschung zu diesem Bereich gibt es grundsätzlich zwei Denkweisen: die Induktion und die Deduktion. Bei der Induktion sage ich, einer ist so, also sind alle anderen aus der gleichen Gruppe so. Bei der Deduktion behaupte ich, das statistische Mittel ist so, daher ist diese Einzelperson auch so. Wie ich versucht habe oben zu zeigen sind diese Vorgehensweisen bei Schwerbehinderten nur schwer zu rechtfertigen. Dennoch müssen wir zumindest teilweise darauf zurückgreifen, da wir keine andere Möglichkeit haben, nur raten wäre schlimmer. Ich weise nur darauf hin, dass wir mit unseren Schlussfolgerungen vorsichtig sein sollten.
Zudem ist es tatsächlich schwierig, außerhalb von speziellen Behinderteneinrichtungen wie Schulen oder Bildungswerken eine größere Zahl von Behinderten zusammen zu bekommen, die eine repräsentative Gruppe sein könnten.
Man kann die Zahl der Studien im Bereich barrierefreie Informationstechnik an zwei Händen abzählen. Und naturgemäß sind sie meistens so speziell, das sie außerhalb eines engen Bereiches kaum praktischen Nutzen entfalten.
Am ärgerlichsten ist es dort, wo diese Daten gar nicht erst veröffentlicht werden. Mir flattert gefühlt jeden Tag eine Umfrage oder andere Untersuchungsanfrage auf den Schreibtisch, von deren Ergebnissen hört man aber nie wieder was. Nicht einmal die Teilnehmer erhalten diese Informationen. Mit großem Aufwand geschriebene Doktor- und Diplomarbeiten verschwinden praktisch ungelesen in den Archiven der Bibliotheken oder werden für Traumpreise verkauft. Für meinen Geschmack ist das eine Form der Entmündigung, „ihr dürft zwar an unseren Studien teilnehmen, aber die Ergebnisse gehören uns“. Übrigens ein Grund, warum ich an solchen Studien nie teilnehme.

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