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Digitale Barrierefreiheit – Jakob Nielsen allein gegen die Accessibility Bubble

Jakob Nielsen – der Guru der Usability-Forschung – hat einen provokanten Beitrag geschrieben. Auch wenn ich nicht alle seine Aussagen teile, meine ich, dass ein Großteil seiner Kritikerinnen falsch liegen. Die Kernthese Nielsens ist, dass digitale Barrierefreiheit gescheitert sei und man es mit KI-generierten automatisch angepassten Benutzeroberflächen – sogenannten generativen UI’s versuchen solle.

Nielsen spricht von Barrierefreiheit und meint User Experience

Zunächst einmal ist Nielsen bisher nicht durch großartiges Engagement für Barrierefreiheit aufgefallen. Seit meiner letzten intensiven Beschäftigung mit Usability vor knapp zehn Jahren habe ich von Nielsen nichts mehr gehört. Seine Aussagen lassen nicht den Schluss zu, dass er wirklich tief im Thema ist:

Before turning to my recommendation for helping disabled users in general, let me mention that two huge groups of users can indeed be helped with current approaches: old users and low-literacy users.

Mit current approaches meint er vermutlich die WCAG. Allerdings gibt es da wenig Ansatzpunkte für ältere Menschen und in der WCAG AA keine für Analphabetinnen. Was darauf folgt ist Usability und nicht Barrierefreiheit, da scheint er irgendwas durcheinander gebracht zu haben. Generell glaube ich, dass er eigentlich User Experience meint, wenn er von Barrierefreiheit spricht. So gesehen ergibt der Beitrag wesentlich mehr Sinn.

Wie ich an anderer Stelle schrieb, bin auch ich mir sicher, dass die hochgradige Anpassbarkeit von User Interfaces in Zukunft immer wichtiger werden wird. Das gilt nicht nur für behinderte, sondern für alle Nutzerinnen. Meine Vermutung ist, dass Nutzerinnen auf der Ebene des Betriebssystems oder des Browsers Profile anlegen werden, die dann automatisch auf Interfaces angewendet werden. Das ist keine Zukunftsmusik, sondern passiert schon heute in gewissem Grade (siehe Abschnitt 11.7 in der En 301549), die Algorithmen werden immer besser. Auch vermute ich, dass der Trend in der Gestaltung immer stärker in Richtung Anpassbarkeit statt Pixel-Genauigkeit geht, so wie wir heute über ressponsives Design sprechen. Das ist insbesondere für die drei Gruppen wichtig, die von unseren Barrierefreiheits-Richtlinien bislang mehr oder weniger im Grunde ignoriert werden: Sehbehinderte, kognitiv Behinderte und Neuro-Diverse. Sie finden in den WCAG 2.x kaum statt. Wenn das client-seitig passiert, sehe ich auch keine Datenschutz-Problematik. Richtig ist allerdings, dass solche Anpassungen möglichst fehlerfrei sein müssen. Es dürfen zum Beispiel keine relevanten Inhalte entfernt werden. Vor allem bei sprachlicher Verständlichkeit ist das hochrelevant: Inhalte müssen immer korrekt sein, auch wenn sie automatisch in verständliche Sprache übertragen werden. Zwar haben wir hier enorme Fortschritte gemacht, es ist aber bei weitem nicht so, dass wir jetzt eine akzeptable Fehlerquote haben. Nielsen geht davon aus – auch das wurde von vielen Barrierefreiheits-Pros offenbar überlesen, dass die Programmierung von Inhalten sich so verändern wird, dass die fehlerfreie Anpassbarkeit gewährleistet ist. Auch das ist keine absolute Zukunftsmusik.

Nielsen irrt allerdings, wenn er suggeriert, das würde alle Probleme der Barrierefreiheit lösen. Automatische Anpassungen sind auch für Blinde hilfreich, allerdings eher in dem Sinne, dass sie redundanten Content entfernt. Wenn ich z.B. ein Ticket kaufe oder Online-Banking mache, stört mich der Inhalt aus der Navigation und dem Footer, ich benötige nur das Formular. Bei semantisch korrekt ausgezeichneten Webseiten würde es auch heute schon funktionieren, mir sind allerdings keine entsprechenden Funktionen zum Ausblenden bekannt.

Nielsen schreibt:

Accessibility is doomed to create a substandard user experience, no matter how much a company invests, particularly for blind users who are given a linear (one-dimensional) auditory user interface to represent the two-dimensional graphical user interface (GUI) designed for most users.

Es ist korrekt, dass Blinde Informationen nur linear wahrnehmen, das ist aber bedingt durch die Technik und trifft auch nicht auf Touchscreens zu. Obwohl zwei-dimensionale Braille-Displays mittlerweile gut verfügbar sind, haben sie sich bislang nicht durchgesetzt. Wie generative UI’s das ändern sollen, sehe ich aktuell nicht. Was er mit auditory interfaces meint, erschließt sich mir nicht, vielleicht eine Art Sprach-Assistent wie Alexa. Aber es hat seinen Grund, warum Alexa kaum für komplexere Aufgaben verwendet wird.

Als Fazit bleibt festzustellen, dass Nielsen nicht sauber zwischen UX und Barrierefreiheit trennt, sie vielmehr in seinem Beitrag munter vermischt:

Moving to second-generation generative UI will revolutionize the work of UX professionals. We will no longer be designing the exact user interface that our users will see, since the UI will be different for each user and generated at runtime. Instead, UX designers will specify the rules and heuristics the AI uses to generate the UI.

Wie oben gesagt würde ich Nielsen insoweit zustimmen, wenn es um die Gestaltung grafischer Benutzer-Oberflächen geht. Wo er meines Erachtens komplett daneben liegt ist das Thema Screenreader und Sprachsteuerung: Also da, wo es aktuell auf die Code-Ebene und nicht die GUI ankommt. Es mag sein, dass hier andere KI-Technologien helfen, davon spricht Nielsen allerdings nicht.

Nielsen hat recht, wenn er davon spricht, dass viele behinderte Menschen eine schlechte User Experience haben und dass die WCAG wenig dazu zu sagen hat. Und ich sehe in der Tat nicht, wie man das mit neuen WCAG-Regeln ändern möchte.

Nielsen spricht außerdem von einer nicht allzu fernen Zukunft. Es gibt also keinen Grund, die heutigen Ansätze zur Barrierefreiheit fallenzulassen, solange wir nichts Neues haben.

Nielsens Kritiker

Ich befürchte, ein Großteil der Barrierefreiheits-Szene, insbesondere die Veteraninnen, ist resistent gegen Kritik. Man beobachtet oft, dass es hier auf die persönliche Ebene geht und man dann gleich ganz auf Argumente verzichtet. Ein Beispiel ist die Zusammenstellung von Adrian Roseli, dem ich gerne einen Yogar-Kurs empfehlen würde. Roseli unterstellt Nielsen zum Beispiel indirekt rechte Tendenzen, weil er bei Substack veröffentlicht hat. Nach dieser Logik sind alle rechts, wenn sie WordPress benutzen, weil es Rechte gibt, die WordPress benutzen. Einige Kritikerinnen wie Roseli verlinken nicht einmal den Original-Artikel von Nielsen, offenbar soll man sich kein eigenes Bild machen, sondern nur auf die Barrierefreiheits-Expertinnen hören. Nun ja, das bleibt ohnehin in der A11Y-Bubble und wird Nielsen wohl weder besonders schaden noch interessieren. Eher amüsant war der Beitrag von Leonie

Watson, die meint, dass Nielsen sich irren würde, weil sie ihr Mittagessen online bestellen könne.

Eine der wenigen sachlichen Kritiken fand ich bei Brian DeConinck. Er schreibt:

In any case, WCAG certainly does have deficiencies. It is not sufficient to ensure an accessible experience for all users. But it’s a well-trodden path of patterns to which users are accustomed that ensures some baseline consistency in how websites behave and how assistive technologies are supported.

Und weiter:

Beyond that, when used by an experienced practitioner, WCAG is a tool for identifying things beyond just “letter of the law” conformance. WCAG provides a series of pass/fail tests, but as a sum of its parts it also describes a philosophical approach for ensuring accessible outcomes.

Ich würde beiden Aussagen widersprechen: Die WCAG hilft vor allem Nutzerinnen, die wahrscheinlich auch mit einer mäßig barrierefreien Applikation zurechtkämen. Sie hilft nicht der Mehrheit, die technisch nicht erfahren oder schlecht ausgestattet ist. Die zweite Aussage ist ebenfalls falsch: Ich kenne fast nur Expertinnen, welche die WCAG buchstabengetreu wie die Bibel auslegen. Da ist kein philosophischer oder holistischer Ansatz. Die heutigen Prüfverfahren zerlegen die Oberfläche in 60 Prüfschritte, statt einen übergreifenden Ansatz zu verfolgen. Die WCAG ist ein Relikt aus einer Zeit, in der Websites statisch und content-basiert waren. Richtig ist, dass die WCAG bei Einhaltung eine konsistente Nutzungs-Erfahrung herstellen können, aber warum das wichtig sein soll, wird nicht erklärt und auch nicht, warum Erfahrungen nicht auf die individuelle Nutzerin angepasst werden sollten, sofern alles funktioniert. Ich vermute, dass viele Kritikerinnen nicht verstanden haben, was Nielsen eigentlich aussagt.

Fazit

Ich bin zugegebenermaßen kein Fan von Nielsen, allerdings auch relativ ernüchtert über die Accessibility-Community. Die Aggressivität und die persönlichen Angriffe auf ihn erscheinen mir nicht gerechtfertigt. Stattdessen sollte man, wie ich das gemacht habe, es so sehen, wie es ist: Ein Beitrag zu einer längst fälligen Diskussion. Wie ich gezeigt habe, kann man auch ohne Schaum vor dem Mund die Thesen von Nielsen analysieren und kritisch bewerten. Er bietet genügend Angriffspunkte.

Ich vermute, dass viele sich an der Überschrift „Accessibility has failed“ aufhängen und den eigentlichen Beitrag gar nicht gelesen haben. Nun ja, niemand hört gerne, dass seine Ansätze gescheitert sind. Anders als viele Overlay-Anbieter verkauft Nielsen allerdings keine Barrierefreiheits-Dienstleistung und hat ein paar relevante Argumente. Wenn man gegen alle Kritikerinnen mit der gleichen Aggressivität vorgeht, wird man irgendwann nicht mehr ernst genommen.

Ich prophezeie einmal, dass die Szene in Zukunft immer mehr herausgefordert sein wird, wahrscheinlich durch neue Technologien und Newbies, die sich mit dem, wie es bisher war nicht mehr abfinden wollen. Und dass sich dann noch weniger Leute für deren aggressive Kommunikation interessieren werden als heute. Es ist, als ob Opa vom Krieg erzählt.

Bei mir verstärkt sich in den letzten Monaten der Eindruck, dass die Szene es nicht verwinden kann, dass sie nicht mehr die Herrschaft über den Diskurs hat. Wir waren so lange in unserem WCAG-Elfenbeinturm, dass sowohl die Overlay-Anbieter als auch viele andere Akteure uns verdrängt haben, weil sie besser kommunizieren können. Im Endeffekt spielt es keine Rolle: Die Technologien, die Nielsen beschreibt richten sich ja nicht speziell an behinderte Menschen, sondern an alle Nutzerinnen. Und sie werden es so selbstverständlich nutzen wie heute ChatGPT, auch wenn wir sagen, dass es nicht funktioniert.

Es ist lange her, dass man mal etwas Konstruktives aus der Szene gehört hat: Die Expertinnnen erklären uns nur noch, dass das nicht funktioniert und jenes nicht funktioniert, manchmal haben sie sogar recht, manchmal sind sie allerdings in ihrem Dogmatismus gefangen. Ich wurde übrigens wegen meinem Blogbeitrag Warum Barrierefreiheit gescheitert ist aus einer englischen Facebook-Gruppe zur digitalen Barrierefreiheit geworfen, obwohl ich dort weder diesen noch einen anderen kritischen Beitrag geteilt habe. Mir persönlich ist das egal, allerdings zeigt es doch, wie seltsam so manche Größe aus der Szene drauf ist.

Ich habe aus Nielsen-Gate mehrere Dinge gelernt:

  • Man sollte sich immer ein eigenes Bild machen.
  • Experten – ob real oder selbst ernannt – mögen es nicht, wenn man sie kritisiert, umso mehr ein Grund, es zu tun.
  • Außerhalb der Accessibility Bubble bekommt man diese Shitstorms – wenn man es überhaupt so nennen möchte – gar nicht mit. Social Media lässt diese Episoden größer und länger andauernd erscheinen, als sie sind.

Es ist Zeit für die nächste Generation an Barrierefreiheits-Expertinnen.