Ein Thema, das in der digitalen Barrierefreiheit bisher sehr kurz kommt sind die klassischen Lernstörungen wie Legasthenie und Dyslexie. Vorneweg sei gesagt, dass ich kein Experte dafür bin und hier nur meine allgemeine Einschätzung teile. Legasthenie und Dyslexie werden weitgehend synonym verwendet, wobei Dyslexie international und Legasthenie eher ein deutscher Begriff ist, aber beides das Gleiche meint. Es soll ca. 3-4 Prozent Betroffene in Deutschland geben.
Dyslexie und Legasthenie
Dyslexie ist eine Lernstörung, die sich in Schwierigkeiten beim Lesen äußert. Menschen mit Dyslexie haben oft Probleme, Buchstaben und Wörter zu erkennen, zu unterscheiden, sie richtig zu lesen und zu verstehen. Diese Schwierigkeiten können sich auch auf das Schreiben und die Rechtschreibung auswirken. Dyslexie hat nichts mit Intelligenz oder mangelnder Motivation zu tun. Es handelt sich um eine neurologische Störung, bei der das Gehirn Schwierigkeiten hat, Buchstaben und Wörter richtig zu verarbeiten. Legasthenie ist ein ähnlicher Begriff wie Dyslexie und wird manchmal synonym verwendet. Die Ursachen sind umstritten, es werden unter anderem genetische Faktoren diskutiert.
Dyskalkulie ist eine spezifische Lernstörung, die sich auf mathematische Fähigkeiten und das Verständnis von Zahlen auswirkt. Menschen mit Dyskalkulie haben Schwierigkeiten beim Verstehen und Anwenden mathematischer Konzepte, beim Zählen, Rechnen und Lösen mathematischer Probleme.
Das menschliche Gehirn ist naturgemäß nicht zum Lesen gemacht. Die ersten Schriftsysteme kamen vor ein paar tausend Jahren auf und erst seit dem 19. Jahrhundert ist es überhaupt üblich, dass die Mehrheit der Menschen selbständig Lesen und Schreiben kann. Eine interessante Darstellung dazu gibt es in dem Buch „Das lesende Gehirn“ von Maryanne Wolf.
Digitale Barrierefreiheit bei Lese-Rechtschreib-Schwäche
Ein wichtiger Aspekt der digitalen Barrierefreiheit für Menschen mit Dyslexie ist die Verwendung spezieller Schriftarten und Formatierungen, die das Lesen erleichtern. Bestimmte Schriftarten, wie beispielsweise OpenDyslexic, sind speziell entwickelt worden, um die Unterscheidung zwischen Buchstaben zu verbessern und das Lesen für Menschen mit Dyslexie angenehmer zu gestalten. Darüber hinaus kann die richtige Formatierung von Texten wie größere Zeilenabstände die Lesbarkeit verbessern. Entsprechende Richtlinien gibt es in der WCAG.
Solche Einstellungs-Möglichkeiten gibt es in den Browsern und anderen Lese-Anwendungen, Ausnahme ist das PDF-Format. Sogenannte Barrierefreiheits-Overlays oder Toolbars – also website-eigene Funktionen sind für diesen Zweck gänzlich überflüssig. Die Anforderungen sind so individuell, dass sie nur mit persönlichen Einstellungen auf dem eigenen Device abgedeckt werden können. Auch speziell für diese Gruppe entwickelte Schriftarten wie die Open Dyslectic sind in ihrem Nutzen bisher nicht empirisch belegt. Als widerlegt gilt mittlerweile die eher anekdotische Evidenz, dass die Comic Sans für diese Gruppe besonders gut lesbar ist. Es mag Individuen geben, die mit diesen Schriftarten besonders gut zurecht kommen, aber das ist sicher kein Grund, Angebote in einer dieser Schriftarten bereitzustellen. Wie oben gesagt ist es wichtiger, dass Websites mit Anpassungen wie einem höheren Zeilen-Abstand oder eigenen Schriftarten funktionieren. Es ist auch gut, wenn die Lese-Modi der Browser von den Websites unterstützt werden, weil sie das Vorlesen durch Software erleichtern.
Eine weitere Möglichkeit, die Barrierefreiheit für Menschen mit Dyslexie zu verbessern, ist die Nutzung von Text-to-Speech-Technologie. Durch die Umwandlung von Text in gesprochene Worte ermöglichen diese Technologien Menschen mit Dyslexie, Informationen auditiv aufzunehmen, was das Verständnis und den Zugang zu Inhalten erleichtert. Das parallele Lesen und Hören von Worten soll die Aufnahme-Fähigkeit erhöhen. Text-to-Speech-Funktionen sind mittlerweile weithin über Geräte und Browser verfügbar und müssen nicht vom Website-Anbieter bereitgestellt werden. Auch hier gilt wieder, dass individuelle Einstellungen wie Stimme und Tempo entscheidend sind.
Digitalisierung kann die Barrierefreiheit für Menschen mit Dyslexie verbessern. Durch die Bereitstellung von digitalen Inhalten können Anpassungen leichter vorgenommen werden, um den Bedürfnissen von Menschen mit Dyslexie gerecht zu werden.
Abgrenzung zu anderen Herausforderungen
Interessant ist, das auch Sehbehinderte ähnliche Herausforderungen aus anderen Gründen haben können. Bei der Sehbehinderung ist entscheidend, dass Zeichen aus visuellen Gründen nicht erkannt oder unterschieden werden können.
Ein weiteres Feld, in welchem ähnliche Herausforderungen bestehen können sind Aufmerksamkeits-Störungen wie ADHS: Auch hier sehen die Symptome für die Beobachterin möglicherweise ähnlich aus, aber die Ursachen und Strategien zum Umgang damit sind vollkommen anders.
Last not least wären funktionale Analphabetinnen zu nennen, von denen es laut der letzten LEO-Studie ca. 7 Millionen im berufsfähigen Alter in Deutschland gibt. Hier liegt das Problem – wahrscheinlich – nicht im Gehirn, sondern in der Sozialisation. Die Betroffenen haben nie richtig lesen und schreiben gelernt. Wobei natürlich nicht ausgeschlossen ist, dass sie wegen einer Dyslexie beim Lesen-Lernen gehemmt waren.
deshalb ist eine entsprechende Diagnose sehr wichtig, um den Betroffenen helfen zu können. Eine nicht erkannte Problematik ist schwierig. Aber auch eine falsche Diagnose führt dazu, dass nicht sinnvolle Maßnahmen getroffen werden, die den Betroffenen nicht helfen. Einer Legasthenikerin wird es wahrscheinlich nicht helfen, größere Buchstaben zu erhalten, wenn der Abstand der Zeichen das Problem ist. Die Änderung der Schriftart hilft einer Sehbehinderten nicht, wenn die Zeichen keine adäquate Größe haben.
Relevante WCAG-Kriterien
Die folgenden Anforderungen finden wir in der WCAG, die unter anderem für diese Gruppe relevant sind.
1.4.4 Resize text
text can be resized without assistive technology up to 200 percent without loss of content or functionality.
1.4.5 Images of Text
If the technologies being used can achieve the visual presentation, text is used to convey information rather than images of text.
1.4.10 Reflow
1.4.12 Text Spacing
no loss of content or functionality occurs by setting all of the following and by changing no other style property:
• Line height (line spacing) to at least 1.5 times the font size;
• Spacing following paragraphs to at least 2 times the font size;
• Letter spacing (tracking) to at least 0.12 times the font size;
• Word spacing to at least 0.16 times the font size.
Bei den höchsten Anforderungen der WCAG unter AAA gibt es zusätzliche Anforderungen, die ich aber noch nie in freier Wildbahn gesehen habe und die in der Regel nicht verpflichtend sind:
1.4.8 Visual Presentation
For the visual presentation of blocks of text, a mechanism is available to achieve the following:
• Foreground and background colors can be selected by the user.
• Width is no more than 80 characters or glyphs (40 if CJK).
• Text is not justified (aligned to both the left and the right margins).
• Line spacing (leading) is at least space-and-a-half within paragraphs, and paragraph spacing is at least 1.5 times larger than the line spacing.
• Text can be resized without assistive technology up to 200 percent in a way that does not require the user to scroll horizontally to read a line of text on a full-screen window.