Ein bisschen Barrierefreiheit – Perfektion sollte nicht das Ziel sein

Es ist kein Geheimnis, dass ich kein großer Freund der vollen Konformität bin. Das Konzept der vollen Konformität ist schwer zu verstehen, schwer zu erklären und schwer umzusetzen. Volle Konformität heißt, dass eine bestimmte Norm zur Barrierefreiheit vollständig erfüllt wurde. In der EU ist das die EN 301549, soweit sie für das Produkt oder die Dienstleistung bzw. dessen Anbieter greift.

Es ist richtig, dass Barrierefreiheit relativ leicht umsetzbar ist, wenn man sie von Anfang an beachtet. Aber zumindest bei komplexeren Projekten und einem unerfahrenen Team geht das nicht ohne einen gut eingebundenen Barrierefreiheits-Profi. Und der ist selbstverständlich nicht zum Nulltarif zu haben. In der Regel hat man es aber eben nicht mit komplett neuen Projekten zu tun, sondern mit bestehenden Systemen und knappen Ressourcen.

Über-Komplexe Regeln helfen niemandem

Harte Regeln sind dort sinnvoll, wo relativ wenig Spielraum ist. Wenn ich einen Rollstuhl-Zugang zu schmal mache, dann wird es sehr teuer bis unmöglich, ihn nachträglich umzubauen. Auch bei Hardware gilt das. Der Entwurf eines eBook-Readers ist aufwendig und man kann ihn schlecht hinterher noch mal barrierefrei machen.

Anders sieht es bei Software aus, auch bei der Software, die auf Hardware wie Lese-Geräten oder Bank-Automaten läuft. Hier ändern sich Designs, Programmier-Techniken und auch die Anforderungen an die Barrierefreiheit relativ schnell. Insofern sind hier sehr harte Regeln oft nicht sinnvoll.

Von Natur aus dogmatisch

In jeder Szene kann man klar zwischen zwei Gruppen unterscheiden: Den Dogmatischen und den Pragmatischen. Denken Sie an eine beliebige Szene, die Sie gut kennen und Ihnen werden sofort Personen einfallen, die Sie der einen oder der anderen Gruppe zuordnen können. In der Regel ist das Verhältnis ausgeglichen. In der Barrierefreiheit ist das anders: Die Dogmatischen machen den Großteil der Szene aus.

Volle Konformität zwingt zum Dogmatismus: Viele Expertinnen erscheinen als in der Wolle gefärbte Radikale. Manchmal sehe ich sie vor mir: Personen, die sich gegenseitig WCAG-Regeln wie Bibelzitate an den Kopf werfen und sich bis aufs Blut bekämpfen. Dem Vernehmen nach ist diese harte Auslegung und der Mangel an Kompromiss-Bereitschaft der Grund dafür, warum es mit der Weiter-Entwicklung der WCAG-Standards lange dauert. In Deutschland sieht man das an der DIN Spec Leichte Sprache, die sich dem Vernehmen nach wegen interner Konflikte so lange hinzieht. Der Lieblings-Spruch der WCAG-Nerds ist „Ein bisschenBarrierefreiheit geht nicht“. Manche bedrucken ihre T-Shirts mit diesem Ausspruch.

Vielleicht liegt das in der Natur der Sache. Die meisten dieser Menschen haben keine Behinderung und somit keine praktische Erfahrung. Veganerinnen ernähren sich vegan, aber Barrierefreiheits-Profis sind mangels Behinderung nicht auf Barrierefreiheit angewiesen. Ich habe tatsächlich festgestellt, dass einige behinderte Expertinnen entspannter sind als Nicht-Behinderte. Aber auch die Jüngeren sind bei der Interpretation der Regeln oft entspannter als die Veteraninnen. Ausnahmen bestätigen die Regel. Vor allem die Testerinnen von der DIAS sind unnötig kritisch und wählen immer die für das Objekt schlechteste Interpretation, eine Art Existenz-Rechtfertigung für sie und ihr Verffahren.

Dogmatismus wäre vielleicht zu rechtfertigen, wenn die WCAG nicht auch viele Lücken und Interpretations-Spielraum ließe. Die volle Konformität hängt nicht nur von den Regeln, sondern von deren Interpretation und der persönlichen Meinung der Expertinnen ab. Deswegen sind auch Zertifizierungen Unsinn, weil sie am Ende immer auf solchen Faktoren basieren und eine Moment-Aufnahme sind. Aus meiner Sicht ist das eine Verschwendung von Ressourcen. Die Mikro-Optimierungen dienen häufig dem einzigen Zweck, volle Konformität in den Augen des Testers herzustellen, ob die Maßnahmen im Einzelfall sinnvoll sind, darf man nicht fragen, weil die Konformität rechtlich festgelegt ist. Ein Beispiel ist 4.1.1. Parsing. Sie ist in der WCAG 2.1 rückwirkend abgeschafft worden, muss aber immer noch erfüllt werden, weil sie in der EN enthalten ist. Das heißt, obwohl wir wissen, dass sie überflüssig ist, müssen wir sie prüfen.

Dabei sagt die WAI selbst, dass die WCAG nicht erschöpfend ist. Die BITV 2.0 fordert, dass der Stand der Technik zu beachten sei. Verfahren wie der BITV-Test und die volle Konformität ignorieren das komplett.

Volle Konformität garantiert keine gute Benutzbarkeit für behinderte Menschen. Auch das kommt bei den Barrierefreiheits-Veterainnen leider nicht an.

Ich glaube auch, dass das viele interessierte Personen von der Barrierefreiheit abschreckt. Wer will da schon mitmachen, wenn er an den Perfektions-Ansprüchen scheitert?

Manche können es sich nicht leisten

besser nichts als 100 Prozent barrierefrei. Das spricht so niemand aus, aber denken und handeln nicht viele aus unseren Kreisen so? Und denken nicht vor allem die alten Hasen, dass sie die Einzigen sind, die alles richtig machen?

Aber was ist mit dem lokalen Frauenhaus, dass sich keinen Barrierefreiheits-Test leisten könnte. Was ist mit dem kleinen Museum, das von einem Web-Entwickler verarscht wurde, der behauptet hat, er könne Barrierefreiheit? Was ist mit dem Verein, dem ein gefälschter PAC-Test vorgelegt wurde. Das sind alles Dinge, die ich in meiner Karriere nicht nur einmal erlebt habe.

Für diese Einrichtungen ist 100 Prozent zu teuer, auch 50 Prozent. Aber 10 Prozent Barrierefreiheit, da würde jede Dogmatikerin den Hörer auflegen. Nach unserer Logik brauchen sie gar nicht erst anzufangen, wenn sie nicht 100 Prozent AA anstreben. Wenn sie sich das nicht leisten können, haben sie Pech gehabt.

Nicht Anything goes, sondern something goes

Natürlich besteht die Gefahr, dass Anbieter ohne harte Regeln irgendwas umsetzen und das dann als barrierefrei verkaufen. Ich glaube aber, dass die Chance, dass jemand mit ein bisschen Barrierefreiheit anfängt und sie dann ausbaut nicht so gering ist. Es ist manchmal sogar leichter: Verantwortliche können nach und nach Barrierefreiheit in die Projekte einschmuggeln: Erst ins Design, dann in die Entwicklung und schließlich in die Redaktion, erst in die Design-, dann in die Entwicklungs-Bibliothek und abschließend in das Redaktions-Handbuch. Die Beteiligten haben viel mehr Zeit, es umzusetzen und sind am Ende vielleicht besser als jene, die der WCAG hart folgen. Denn diese Leute wollen die Regeln 1:1 umsetzen und kein Stück mehr machen als das, wozu sie verpflichtet sind.

Weniger harte Regeln, mehr Empfehlungen

Die WCAG und die EN 301549 drohen, zu einem undurchführbaren Konvolut an Regeln zu werden. 100, 120 oder 150 Regeln – alles scheint möglich. Das dürfte selbst für Expertinnen irgendwann so komplex werden, dass es kaum noch umsetzbar ist. Ebenso wie der Datenschutz – gute Idee, schlechte Umsetzung – bremst es den Fortschritt und die digitale Barrierefreiheit aus, weil die Vollendung von Anwendungen sich unendlich verzögert. Die Umsetzung von PDF UA – meines Wissens rechtlich nirgendwo verankert – ist ähnlich wie Gold aus Dung machen, fast unmöglich.

Meines Erachtens reichen wenige Must-Have-Regeln. Dazu gehört zum Beispiel die Bedienbarkeit per Tastatur, also im Wesentlichen das, was in der WCAG 2.x A steht. Den Rest würde ich tatsächlich als Empfehlungen erster Stufe (AA) und zweiter Stufe (AAA) umsetzen. Empfehlung heißt, es ist wünschenswert, dass es umgesetzt wird, aber es ist nicht zwingend, um Konformität zu erreichen.

Kommunikation nach außen

Der Begriff Barrierefreiheit ist anders als das Konzept Konformität nicht fest definiert. In der Kommunikation nach außen ist es daher sinnvoll, entweder eine Stufe der WCAG als Ziel der eigenen Bemühungen zu kommunizieren oder die konkreten Maßnahmen, die man durchgeführt hat. Sagt man zum Beispiel „Wir haben darauf geachtet, dass unsere Website vollständig per Tastatur bedienbar ist“ ist das eine einfache, überprüfbare Aussage, die nicht suggeriert, man hätte eine vollständige Konformitätsstufe erfüllt.

Ebenso kann man sagen, man hat LibreOffice oder MS Office verwendet, um seine PDFs barrierefrei zu machen. In den meisten Fällen wäre das vollkommen ausreichend. Behinderte Menschen haben hier, wenn man ihnen das Problem erklärt mehr Verständnis als die WCAG-Nerds.

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