Barrierefreiheits-Expertinnen stehen in ihrer Arbeit häufig vor frustrierenden Herausforderungen. Trotz des zunehmenden Bewusstseins für die Bedeutung von Barrierefreiheit gibt es nach wie vor zahlreiche Hürden, die den Fortschritt behindern. Im Folgenden werden einige der zentralen Frustfaktoren erläutert.
Häufige Frust-Faktoren
Ein immer wiederkehrendes Problem ist, dass bei vielen Projekten „bei Null angefangen“ werden muss. Trotz der klaren gesetzlichen Vorgaben und ethischen Verantwortung, Barrierefreiheit zu gewährleisten, müssen die Expert:innen immer wieder von vorn erklären, warum diese so wichtig ist. Leider wird Barrierefreiheit oft noch als „nice to have“ statt als unerlässliche Grundlage betrachtet.
Leider muss man eigentlich auch immer bei Null anfangen. Viele Auftraggeber glauben fälschlicherweise, dass ihre Mitarbeitenden sich mit dem Thema Barrierefreiheit auskennen. Das war bisher nie der Fall. Ist ja auch logisch, wenn sie sich auskennen würden, bräuchten sie uns ja nicht. Das heißt aber auch, dass wir immer das kleine 1:1 der Barrierefreiheit beibringen müssen. Manche Expertinnen kommen damit nicht klar.
Ein weiterer bedeutender Frustfaktor ist der häufige Mangel an Budget und Priorisierung. Barrierefreiheitsprojekte werden oft erst zu spät oder gar nicht in den Budgetplan aufgenommen. In vielen Fällen wird Accessibility zugunsten „cooler“ Features gestrichen, weil es als „nicht sichtbar“ gilt – dabei handelt es sich um ein zentrales Merkmal für den Zugang zu digitalen Inhalten für alle Menschen.
Auch die Praxis, Entscheidungen ohne die Betroffenen zu treffen, führt zu Frustrationen. Häufig wird Barrierefreiheit nicht mit den tatsächlichen Nutzer:innen, sondern lediglich „für sie“ entwickelt. Statt auf manuelle Prüfungen und Nutzertests zu setzen, wird Barrierefreiheit oft auf die Nutzung automatisierter Tools reduziert, die jedoch nicht alle notwendigen Aspekte abdecken können.
Ein weiteres Problem sind die häufigen Fehlverständnisse in Bezug auf Entwicklung und Design. Viele Entwicklerinnen und Designerinnen haben nicht genug Verständnis für die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG), Semantik oder die Nutzung von Screenreadern. Ein verbreiteter Irrglaube lautet: „Es funktioniert mit der Maus, also ist es barrierefrei.“ Diese Haltung verkennt die Realität der Barrierefreiheit, die viel mehr umfasst als nur die Maussteuerung.
Ein weiterer Hemmschuh ist die unzureichende Schulung und Sensibilisierung im Team. Obwohl Barrierefreiheit alle Bereiche betrifft – Design, Entwicklung, Content, Qualitätssicherung und Projektmanagement – werden Schulungen oft vernachlässigt. Ein häufiges Missverständnis ist zudem, dass Barrierefreiheit ausschließlich „für Blinde“ relevant sei, obwohl sie eine viel breitere Zielgruppe umfasst.
Barrierefreiheit wird auch oft erst am Ende eines Projekts berücksichtigt, anstatt von Anfang an integriert zu werden. Dieses Vorgehen macht die Umsetzung nicht nur teurer und weniger effizient, sondern sorgt auch für unnötige Frustration bei allen Beteiligten.
Schließlich ist Ignoranz trotz Feedback ein weiteres häufiges Problem. Wenn Expertinnen oder Nutzerinnen auf bestehende Barrieren hinweisen, werden ihre Anmerkungen oft ignoriert oder als unwichtig abgetan. Noch schlimmer ist es, wenn auf das Feedback mit der Bemerkung reagiert wird: „Wir kennen jemanden mit einer Behinderung, der hatte keine Probleme.“ Eine solche Haltung ist nicht nur unprofessionell, sondern auch gefährlich, da sie echte Probleme ignoriert und marginalisiert.
Diese Frustrationen sind für Barrierefreiheits-Expert:innen oft schwer zu ertragen, da sie sich für die Rechte aller Menschen einsetzen und auf Lösungen drängen, die zu einer inklusiveren Gesellschaft führen. Es ist an der Zeit, dass Barrierefreiheit nicht nur als theoretisches Ziel, sondern als praktische Notwendigkeit betrachtet wird.
Last but not least ist man als BF-Expertin fast immer die Überbringerin schlechter Nachrichten. Wir haben 200 Issues gefunden ist nicht ungewöhnlich als erste Begrüßung. Es ist leider immer noch nicht gefixt ist die zweithäufigste Nachricht. Ich hatte es bisher nicht, aber viele Andere berichten auch, dass die schlechte Laune der Beteiligten auf sie übertragen wird. Es gibt viele Leute, die das nicht gut verkraften.
Was tun?
Wie kann man damit umgehen? Was ich bei vielen Aktivistinnen als schwierig ansehe ist, dass sie solche Dinge oft persönlich nehmen. Wie in vielen Bereichen ist es aber wichtig, eine gewisse innere Distanz zu den Projekten zu haben. Ansonsten wird man gerade bei der Barrierefreiheit einen Burnout oder Ähnliches erleiden, weil es eben im Schneckentempo oder gar nicht vorangeht.
Aus meiner Sicht ist ein Fehler vieler Barrierefreiheits-Expertinnen, dass sie Perfektion anstreben. Perfektion ist im Lehrbuch gut, in der Praxis bei komplexen Projekten unmöglich. Ebenso kann man den Stall des Augias ausmisten. Und weil das nicht klappt, ist man schnell verärgert. Aber das hilft niemandem weiter. Es gehört zu unserer Job-Beschreibung, das selbe immer wieder und wieder und wieder mit einer Engels-Geduld zu erklären und den Beteiligten bei der Suche nach Lösungen zu helfen. Wer das nicht kann, ist in diesem Job falsch aufgehoben, sorry to say that. Unser Job ist, Barrierefreiheit zu erklären und bei der Umsetzung zu helfen, nicht auf andere Leute zu schimpfen. Wer das möchte, ist im Aktivismus besser aufgehoben.
Wir sind auch nicht alleine mit dieser Herausforderung: Auch viele UX-Expertinnen leiden darunter oder ärgern sich darüber, dass sie ihre Arbeit rechtfertigen müssen, obwohl der Nutzen offensichtlich ist. Der Kunde bzw. die Verantwortlichen müssen mit zahlreichen Anforderungen zurechtkommen, die an sie herangetragen werden. Insofern ist ein bisschen Verständnis für die Kunden-Situation angesagt.
Zuckerbrot und Peitsche ist die letzte Strategie, die ich empfehlen möchte. Zuckerbrot heißt Sensibilisierung und Motivation. Barrierefreiheit erhöht die Produkt-Qualität. Barrierefreiheit ist eine zusätzliche Fähigkeit, die ihr in eure Vita aufnehmen könnt und die viel auf dem Arbeitsmarkt gefragt ist. Es ist am Anfang schwierig, aber wenn man es einmal begriffen hat, dann ist es gar nicht so kompliziert.
Und die Peitsche? Es ist Gesetz. So einfach ist es manchmal. Es ist nicht so, dass ihr es euch aussuchen könnt. Setzt es um oder lasst es bleiben, aber dann müsst ihr die Verantwortung dafür übernehmen. Ja, wir müssen geduldig sein, aber manchmal muss man mit dem Gesetz kommen, um die Trägheit aus dem System rauszunehmen.