Mittlerweile werde ich recht häufig gefragt, ob eine Vorlesefunktion für die Website sinnvoll ist. Die kurze Antwort ist nein, Vorlesefunktionen wie ReadSpeaker, Web Reader und Co. tragen nicht zur Barrierefreiheit bei. Sie sind so überflüssig wie angeblich automatisch arbeitende Accessibility Overlays und können sogar Barrieren aufbauen. Investieren Sie das Geld lieber in andere Verbesserungen Ihrer Website. Hier folgt die lange Antwort mit einer Erklärung.
Man sieht ihn immer öfter, einen Button, mit dem man sich eine Webseite bzw. deren Inhalt vorlesen lassen kann. Doch wem nutzt diese Funktion und lohnt es sich, sie anzuschaffen?
Wer nicht lesen kann, wird gar nicht so weit kommen
Blinde brauchen diese Funktion nicht, sie haben ihren eigenen digitalen Vorleser. Sehbehinderte und Lesebehinderte könnten profitieren. Doch gerade die Lese-Behinderten oder funktionale Analphabeten (FA) profitieren eher weniger von solch einer Funktion. FAs können nur auf Wort- oder Satzebene lesen. Und auch das Schreiben fällt ihnen schwer. Doch ist die ganze Architektur des Webs auf Text ausgelegt. Wir geben Text in die Suchmaschine ein, wir müssen das Ergebnis aus Text auswählen und wir landen sehr wahrscheinlich auf einer Webseite mit Text. Soweit kommen viele FAs aber gar nicht, sie scheitern eventuell schon am ersten Schritt, der Texteingabe. Nun gibt es zwar die Sprachsuche von Google, doch die Ergebnisse muss man immer noch selbst auswählen.
Nun gehen wir aber mal davon aus, dass diese Funktion wirklich für diese Gruppe nützlich wäre. Dann stoßen die FAs auf das Problem, dass die absolute Mehrheit der Websites keine solche Funktion hat. Die FAs wären also auf die wenigen Websites beschränkt, die eine Vorlese-Funktion integriert haben. Und dass will man wirklich niemandem zumuten. Man müsste also wissen, dass die Website eine solche Funktion hat, bevor man sie aufruft.
Im Übrigen werden tatsächlich nur Inhalte, nicht aber Navigationen, Links und weitere Elemente vorgelesen. Es werden also in jedem Fall Lesefähigkeiten benötigt, möchte man mehr als den Inhalt zur Kenntnis nehmen und mit der Website interagieren. Komplexe Inhalte wie Tabellen oder Formulare können solche Tools nicht sinnvoll vorlesen.
Auch vorgelesene Texte sind nicht automatisch verständlich
Ein spezielles Problem lesebehinderter Menschen ist auch, dass sie nicht mit komplexeren Texten und den in ihnen verwendeten Begriffen vertraut sind. Ob ihr einen Text über mathematische Probleme selber lest oder ob er euch vorgelesen wird, wenn ihr nicht in der Materie seid, macht das keinen Unterschied für die Verständlichkeit.
Hinzu kommt, dass die Vorlesefunktion oftmals Probleme hat, Ausdrücke korrekt zu fassen. Jeder Screenreader weiß, dass er bei dem Punkt einer Abkürzung nicht mit der Stimme runtergeht, als ob es ein neuer Satz wäre. Die Vorlesefunktionen machen genau das, womit die kognitive Belastung steigt. Der Zuhörer ist kognitiv darauf vorbereitet, dass ein neuer Satz kommt, doch es ist immer noch der gleiche Satz und bis er das merkt, ist schon wieder ein halber Satz vorgelesen worden.
Insgesamt ist die Sprachmelodie einfach grauenhaft. Das liegt nicht an der Stimme, sondern an schlecht gemachten Regeln dazu, wann die Stimme hoch- und runtergeht oder was betont werden soll. Da leistet tatsächlich jeder Screenreader, den ich je verwendet habe bessere Arbeit.
Wahrscheinlich aus Gründen der Performanz oder vielleicht aus Kostengründen werden relativ günstige Stimmen für das Vorlesen verwendet, die nicht besonders angenehm klingen, manche scheinen noch im Stimmbruch zu sein.
Ganz übel wird es, wenn fremdsprachige Begriffe enthalten sind. Natürlich hat die Funktion keine Regeln zur Aussprache englischer, französischer oder gar arabischer Begriffe. Solche Ausdrücke werden entweder ignoriert, wenn sie in nichtlateinischen Buchstaben geschrieben sind oder sie werden mit deutscher Betonung vorgelesen. Der Screenreader hingegen hat viele Regeln auch für Fremdwörter und kann bei entsprechender Auszeichnung der Begriffe sie auch mit korrekter Betonung vorlesen. Alle diese Erfahrungen durfte ich übrigens mit dem Marktführer ReadSpeaker machen.
Die Funktion ist unkomfortabel
Zurücklesen machen wir ungern, aber wir können es, wenn nötig. Doch die Vorlesefunktion kann den Text nur in einem Rutsch vorlesen, stoppen oder von vorne beginnen. Zeilenweise, absatzweise oder anhand der Überschriften zu navigieren ist mit der Vorlesefunktion nicht möglich. Eine MP3-Datei zum Download anzubieten ist keine brauchbare Alternative. Als Vergleich: Es wäre so, als ob man einen Text immer von vorne an lesen müsste, wenn man eine bestimmte Information sucht.
Es gibt außerdem auch viele Informationen, die sich nicht vernünftig vorlesen lassen, sie sind bestenfalls für Screenreader zugänglich. Dazu gehören vor allem Tabellen. Auch hierfür bieten ReadSpeaker und Co. keine vernünftige Umsetzung.
Ärgerlich daran ist, dass die Programme wesentlich besser sein könnten, sie wurden offensichtlich seit Jahrzehnten nicht weiterentwickelt.
Vorlesen ist inklusive
Doch das stärkste Gegen-Argument gegen eine Vorlese-Funktion ist, dass praktisch jedes etwas verbreitetere System eine bessere Vorlese-Funktion integriert hat: iOS, der Mac, Android, Windows, Linux, überall finden wir einfache und teils sehr einsteigerfreundliche Vorlese-Tools. Der Narrator unter Windows zum Beispiel hat ein visuelles Benutzermenü. Zugegeben, Orca mit eSpeak ist für ungeübte Ohren nicht perfekt, aber der Marktanteil von Linux ist ohnehin nicht so hoch. Alle anderen Systeme haben natürlicher klingende Stimmen an Bord. Firefox unter Windows 10 hat in der Lese-Ansicht eine Vorlese-Funktion integriert. Der Edge hat in seiner neuen Chromium-basierten Version den plastischen Reader integriert, der sich auf jeder Webseite nutzen lässt und viel komfortabler ist als ReadSpeaker und Co. Android und iOS haben eine Vorlesefunktion in den Bedienungshilfen, die speziell für Lese- und Sehbehinderte gedacht ist.
Diese Funktionen stehen für jeden Web-Inhalt zur Verfügung. Sie müssen nicht jedes Mal gesucht und angepasst werden, wie es bei in Websites integrierten Vorlese-Funktionen notwendig ist.
In Zukunft könnten sogar Alexa und Co. Webseiten komfortabel erkunden und vorlesen. Technisch wäre das heute bereits möglich,
Computer nutzen ohne lesen und schreiben zu können
Vorlese-funktionen sind gesetzlich nicht vorgeschrieben
Gesetzlich sind Vorlesefunktionen für Webseiten oder mobile Apps nicht vorgeschrieben. Weder die WCAG noch die BITV verlieren ein Wort darüber. Insofern kann das Fehlen einer solchen Funktion auch nicht gegen die Barrierefreiheit verstoßen. Im Gegenteil.
Eine Vorlesefunktion = keine ahnung von Barrierefreiheit
Wer eine Vorlesefunktion in seine Website integriert, offenbart damit, dass er keine Ahnung und kein Interesse an digitaler Barrierefreiheit hat. Sie ist nicht vorgeschrieben, sie ist überflüssig und sie ist unter Usability-Aspekten der letzte Schrott.
Kennen Sie das bomont „einem Eskimo einen Kühlschrank verkaufen“? So ähnlich ist eine Vorlesefunktion, viel Geld für null Funktion. Sie bezahlen bestenfalls für ein gutes Gewissen im Glauben, etwas für Barrierefreiheit getan zu haben. Gleichzeitig zeigen Sie aber jedem Eingeweihten, dass Sie keine Ahnung von Barrierefreiheits-Standards haben.
Warum die Aufregung?
Nun stimmt es nicht, dass diese Tools keinen Schaden anrichten. Zum Einen sind sie sehr teuer, bekanntermaßen kann man einen Euro nur einmal ausgeben, der dann für andere – sinnvolle – Maßnahmen nicht zur Verfügung steht.
Zum Anderen haben wir mit der Vorlesefunktion eine weitere nutzlose Funktion, welche man ignorieren muss. Im Sinne der Informations-Architektur ist es aber sinnvoll, weniger Müll auf der Website zu haben.