Die Diskussion um die Barrierefreiheit konzentriert sich stark auf das barrierefreie Webdesign, lässt aber zwei ebenfalls sehr wichtige Faktoren außer acht: den Client und natürlich die eingesetzte Hilfstechnik.
Client
Der Client ist die Schicht, die zwischen dem Benutzer und den Inhalten liegt. Im weiteren Sinne ist das also der Computer oder ein anderes Endgerät wie ein Smartphone, ein Tablet oder ein Terminal. Im engeren Sinne ist die Plattform weniger wichtig als die darauf betriebene Software, in der Regel spielt der eingesetzte Browser, das Programm oder die App die Schlüsselrolle.
Die Hilfstechnik
Wenn der Client die nötigen Accessibility-APIs unterstütztund der Inhalt die nötigen Informationen liefert, bekommt die Hilfstechnik die Schlüsselrolle bei der Benutzbarkeit von Inhalten. Wenn die Hilfstechnik die von der API bereit gestellten Informationen nicht verarbeiten kann, ist es Essig mit der Barrierefreiheit. Deswegen meine Frage:
Muss man zum Beispiel Screenreader-Nutzer dazu bringen, einen aktuelleren Browser und einen aktuelleren Screenreader einzusetzen? Die Antwort auf beide Fragen lautet ja. Der einfache Grund ist, wenn man sie nicht zwingt, machen sie es nicht. Solange alles, was ich tun möchte mit meiner Uralt-Konfiguration funktioniert sehe ich keinen Grund, warum ich irgendetwas anfassen sollte.
Technik-Konservatismus unter Blinden
In einem älteren Artikel schrieb ich, dass die Barrierefreiheit oft nicht an den Webseiten, sondern an der eingesetzten Hilfstechnik scheitert. Ich hatte so 2009 herum noch ein Notebook in Gebrauch, auf dem Jaws 6.4 und der Internet explorer 6 liefen. Für die Nicht-Experten, das war schon damals total veraltet, entscheidend war für mich aber, dass die Software lief. Der Laptop selbst war schon uralt und wäre mit einem Update nur schwer zurecht gekommen. Auf meinem aktuellen Laptop läuft Jaws 9, was auch nicht mehr taufrisch ist. Parallel läuft NVDA, die jeweils aktuelle Version. Auf einem anderen, wirklich uralten Laptop läuft nur NVDA.
Da sich kein Blinder neue Versionen kommerzieller Windows-Screenreader leisten kann, haben viele Blinde veraltete Technik zuhause herumstehen. Das liegt natürlich auch daran, dass Windows XP schon so lange auf dem Markt ist, dass ein Generalupdate des Screenreaders bisher auch nicht unbedingt nötig war. Win XP ist 2002 auf den Markt gekommen, alle seit dem auf den Markt gekommenen Screenreader unterstützen XP. Im schlimmsten Fall kann der Screenreader also zehn Jahre alt sein. Und es gibt durchaus noch einige Leute, die ältere Windows-Versionen einsetzen. Was das in puncto Sicherheit bedeutet, brauche ich wohl nicht auszuführen.
Es mag vor fünf oder zehn Jahren noch okay gewesen sein, sein System vielleicht einmal upzudaten oder einfach so lange zu benutzen, bis es kaputt war und man ohnehin ein neues kaufen musste. Den meisten Blinden scheint aber nicht klar zu sein, dass sie nicht an den Neuerungen des Webs teilhaben können – egal wie barrierefrei oder unfrei – wenn sie nicht aktuelle Browser und Screenreader einsetzen.
Günstige Technik
Der wichtigste Grund, nicht upzudaten, hat sich mit günstigen oder kostenlosen Screenreadern wie VoiceOver, Orca oder NVDA erledigt. Wenn mir jemand ernsthaft erzählt, jemand könnte ein Formular nicht bedienen, weil sein Screenreader älter sei, dann würde ich ihm gerne sagen, dass niemand, der zumindest Windows XP nutzt heute noch einen älteren Screenreader nutzen muss. Die Alternative lautet: Friss oder stirb, date up oder verzichte auf Neuerungen und Verbesserungen. Es gibt für Jaws 6.4 und den Internet Explorer 6 kein ARIA und kein HTML5basiertes Youtube, da kann man sich ärgern, solange man möchte, das ändert nichts daran. Natürlich können die Betroffenen so lange ihren alten Screenreader verwenden, wie sie möchten. Es ist dann aber auch nicht mehr legitim, sich über nicht funktionierende Webseiten zu beschweren. Die Richtlinien und Verordnungen verweisen darauf, dass auch ältere Hilfstechnik unterstützt werden sollte, das kann aber nicht bedeuten, zehn Jahre alte Hilfstechnik auf einer topaktuellen Seite zu unterstützen. Schließlich artet das ganze in eine Sysiphus-Arbeit aus, wie viele Versionen von jaws, Window Eyes, cobra und so weiter sollen unterstützt werden und wer möchte sich schon merken, welche Version welche Funktionen unterstütz? Erwartet man ernsthaft von einem Entwickler, dass er sich nicht nur mit Screenreadern auskennt, sondern auch die diversen Bugs der unterschiedlichen Produkte und ihrer einzelnen Versionen der letzten fünf Jahre kennt?
Der Aufwand zur Umstellung scheint mir auch kein gutes Gegenargument zu sein. Ich arbeite seit ungefähr 15 Jahren mit Word und seit ungefähr 10 Jahren mit verschiedenen Jaws-Versionen und darf behaupten, ich kenne die meisten Funktionen oder Tastenkürzel nicht auswendig, viele Funktionen kenne ich überhaupt nicht. Für die übliche Bedienung eines Computers reichen eine Handvoll Tastenkürzel und die Dokumentation des Programms.
Wer Spaß daran hat, kann NVDA so anpassen, dass es ungefähr auf die gleichen Tastenkürzel wie Jaws reagiert. Außerdem musste man sich ja ohnehin einmal in den Screenreader einarbeiten und man muss auch nicht sofort vollständig umsteigen, sondern kann das schrittweise tun und zunächst beide Programme parallel einsetzen.
Ich glaube im übrigen nicht, dass die Umstellungsmüdigkeit etwas mit Behinderung zu tun hat. In der Regel ist es Bequemlichkeit, schließlich gibt es genügend Nicht-Behinderte, die ebenfalls mit Uralt-Konfigurationen unterwegs sind.
Carl Growes hat ganz richtig angemerkt, dass die Hilfstechnik die Webseite nicht barrierefrei macht. Aber eine veraltete Hilfstechnik kann sehr wohl verhindern, dass eine an sich barrierefreie Webseite komfortabel genutzt werden kann.
Auch Windows 8 könnte für Blinde sehr interessant werden, obwohl die Metro-Oberfläche sehr visuell orientiert ist.
Wenn eine vernünftige Touch-Unterstützung ähnlich wie bei iOS umgesetzt wurde bzw. wird, werden ganz neue Anwendungsszenarien für Blinde denkbar. Apps in iOS sind ganz nett, aber ein echtes Desktop-Programm ist manchmal unausweichlich. Drag und Drop zum Beispiel würde Blinden die Nutzung von Web 2.0-Anwendungen wesentlich erleichtern, Tabellen in Excel würden leichter erschließbar, es ließen sich leichter Präsentationen erstellen und so weiter. Ein großes Display erlaubt das Erkunden und Steuern mit beiden Händen, darin steckt großes Innovationspotential, nicht nur für Blinde.
Wer also an den neuen technischen oder digitalen Möglichkeiten teilhaben möchte, hat gar keine Alternative als seine Programme upzudaten. Es wird sicher nicht einfacher, wenn man länger wartet.
The role of assistive Technology in Accessibility