Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass Nicht-Behinderte das Feld der digitalen Barrierefreiheit beherrschen? In Deutschland ist das besonders ausgeprägt. Aber auch in anderen Ländern steht es nicht gut. Besonders deutlich wird das an Veranstaltungen wie Konferenzen zu digitaler Barrierefreiheit.
Inklusion und Barrierefreiheit im Old-Style-Way
Die deutsche Barrierefreiheits-Community hat meine Kritik leider nicht verstanden: Es reicht heute nicht mehr zu sagen, dass man sich für Barrierefreiheit einsetzt: Es geht auch darum, dass man behinderten Menschen die Chance gibt, selbst als Expert:Innen zu sprechen. Das passiert nicht, wenn eine Diskussionsrunde aus lauter Nicht-Behinderten besteht. Wenn es diese behinderten Expert:Innen kaum gibt, dann liegt es unter anderem auch an den Strukturen, die Neulingen nicht die Chance gibt, sich zu etablieren. Es ist kein Zufall, dass Grauhaarige heute die Panels zur Barrierefreiheit dominieren und die jüngste Person in der Runde 50 ist. Auch Menschen, die sich glaubhaft für Barrierefreiheit einsetzen können verhindern, dass behinderte Menschen partizipieren.
Es gibt das durchaus berechtigte Argument, dass diese Grauhaarigen ein legitimes Interesse an Eigen-Marketing haben. Aber in ihren Agenturen bzw. Kollegium arbeiten auch jüngere Menschen, welche die Agentur ebenso gut vertreten können. Das eigene Ego ist das Problem.
Eigentlich ist man sich einig, dass Panels und andere Institutionen divers besetzt sein sollten, nur bei Inklusion und Behinderung scheint das nicht zu gelten. Stellen Sie sich eine Konferenz zu Gender-Themen ohne Frauen, zu Migrations-Themen ohne Personen mit Migrations-Hintergrund vor. Das ist ein No-Go. Nur auf Barrierefreiheits-Veranstaltungen scheint das okay zu sein. Auch ist das Geklüngel in der Szene ausgeprägt: Man empfiehlt sich gegenseitig, wobei behinderte Menschen in diesen Netzwerken selten aufgenommen und daher auch nicht empfohlen werden, erkennbar am Netzwerk rund um den Dias-Test.
Jüngstes Beispiel ist die Barrierefreiheits-Konferenz 2024 des Rheinwerk-Verlages. Ein bisschen enttäuscht bin ich vom Rheinwerk-Verlag. Während das erste Programm vermutlich schnell zusammengestellt werden musste, hätte man bei der dritten und vierten Auflage mehr Chancen gehabt. Nicht nur die Vortragenden, auch die Themen sind so konventionell, dass man zwei Mal hinschauen muss, um die Unterschiede zu den vorherigen Konferenzen zu erkennen. Auch musste ich darüber nachdenken, ob das jetzt ein Barrierefreiheits-Panel oder eine Versammlung alter hellhäutiger, nicht-behinderter Personen sein sollte – es ist beides.
Auch Joschi Kuphal hat für sein A11Y auf Deutsch-Event ein Faible für Nicht-Behinderte und ältere Männer. Offenbar ist es ihm egal, was Behinderte zur Barrierefreiheit zu sagen haben. Kuphal wird das sicherlich anders sehen, aber schauen Sie sich einfach das Line Up der Veranstaltung in den letzten Jahren an. Leider ist dieses Verhalten weit verbreitet, zum Beispiel auch bei der IAAP, auch hier reden Nicht-Behinderte mit Nicht-Behinderten.
Mir geht es nicht darum, dass Nicht-Behinderte etwas Falsches sagen, auch Behinderte können Unsinn von sich geben. Behinderte Menschen dabei zu haben ist kein Wert an sich, sondern zeigt einfach deutlich, dass es auch behinderte Expert:innen gibt. Es wird nicht nur über sie gesprochen. Natürlich sprechen behinderte Menschen auch ganz anders über Barrieren als Leute, die das nur aus dritter Hand kennen. Und schließlich zeigt die Anwesenheit behinderter Menschen, die sich kompetent äußern können ein Stück weit, dass Inklusion und Barrierefreiheit erfolgreich waren, ansonsten würden sie ja nicht dort sitzen. Natürlich sind auch behinderte Menschen wichtig, die sagen, dass dieses und jenes nicht funktioniert. Das Bild wird aber schief, wenn Behinderte sagen, was nicht funktioniert und der Nicht-Behinderte, wie man das repariert. Das verfestigt einmal mehr den Fürsorge-Gedanken.
Aktuell (Juli 2023) erzählt eine Dame von Google Deutschland in einem Video, wie wichtig Tastatur-Bedienbarkeit ist. Und ich frage mich, ob sie überhaupt weiß, wovon sie redet: Hat sie mal einen ganzen Tag lang versucht, ohne Maus zurechtzukommen? Google ist vielleicht das beste Beispiel, wenn es um mangelnde Barrierefreiheit bei einem großen Unternehmen geht, da hat man den Bock zum Gärtner gemacht. Vielleicht sollten sie Google-intern einmal eine Sensibilisierung machen.
Ich erinnere mich mit Grauen an eine Runde von Microsoft Deutschland, in der mehrere Personen über Barrierefreiheit diskutiert hatten. Keiner von denen hatte eine Behinderung und auch thematisch keinen echten Bezug zu digitaler Barrierefreiheit. Was für ein Bild gibt das ab? Ich hatte intern bei meinem damaligen Auftraggeber auf dieses Problem aufmerksam gemacht, was Microsoft aber ziemlich egal war. Das ist einige Jahre her, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie daraus etwas gelernt haben. Wahrscheinlich nicht. Bei solchen Events geht es mehr um Name Dropping – irgendwelche Leute bzw. Firmen, die man kennt und die deshalb einen Pull-Effekt haben. Von dem Thema müssen sie nichts verstehen, im Zweifelsfall haben sie Angestellte, die die Sprechzettel für sie schreiben.
Die Veranstaltungen sind wichtig, weil sie den Referentinnen Prestige verleihen. Für Newbies ist es recht schwierig, Bekanntheit zu erlangen. Da ist es sinnvoll, wenn sie die Chance haben, auf Konferenzen aufzutreten. Wie das nicht geht, sieht man bei der für 2024 geplanten Konferenz des Rheinwerk-Verlages, wo sie wieder die überwiegend männlichen Senioren der deutschen Barrierefreiheits-Szene eingeladen haben. Bei der dritten Auflage hätte man wirklich mal ein paar neue Gesichter und Themen reinmischen können, aber offenbar war das zu anstrengend. Der Umsatz wird trotzdem stimmen.
Ich behaupte übrigens nicht, dass sie das bewusst tun oder behinderten-feindlich sind. Sie halten sich selbst vermutlich für progressiv und inklusiv. Aber sich selbst für inklusiv zu halten und es zu sein sind zwei verschiedene Dinge. Der Bias und die Leugnung von Fakten sind in der szene sehr ausgeprägt.
Man muss seine Rechte einfordern und dafür kämpfen. Der nicht vorhandene gute Wille der Barrierefreiheits-Seniorinnen wird nicht zu einer Verbesserung führen.
Für mich persönlich habe ich den Schluss gezogen, dass ich nur noch als Experte und nicht mehr als Testimonial auftreten werde. Mehr kann ich leider nicht tun.
Was Sie tun sollten
Wenn Sie sich an dieser Kampagne für mehr Diversität auf Barrierefreiheits-Veranstaltungen beteiligen wollen, sind hier ein paar Vorschläge, was Sie tun können:
- Machen Sie die Veranstalterin auf das Problem aufmerksam. Sie wird sich vermutlich herausreden. Aber erst mal geht es darum, für das Problem zu sensibilisieren.
- Boykottieren Sie die Veranstaltung, wenn die Veranstalter nicht inklusiv arbeiten wollen und Sie die Veranstaltung nicht unbedingt besuchen müssen.
- Wenn Sie Veranstalter sind: Achten Sie darauf, dass Personen mit Behinderung als Expertinnen beteiligt sind. Eine Quote von 30 Prozent Expertinnen mit Behinderung halte ich für Deutschland für realistisch. Eine Quote von 50 Prozent Frauen ist ebenfalls heutzutage ein Muss und problemlos machbar. Auch eine vernünftige Mischung von Jüngeren und Älteren ist heute sinnvoll. Es gibt keinen Grund, die gleichen Nasen immer und immer wieder zu zeigen.
- Wenn Sie nicht-behinderte Referentin auf einer Veranstaltung sind: Suchen Sie nach Personen mit Behinderung, denen Sie Ihren Platz überlassen oder mit denen Sie gemeinsam referieren können. Wir benötigen dringend mehr prominente Expertinnen mit Behinderung. Das klappt nur, wenn sie auch Bekanntheit durch Vorträge erlangen können. Knüpfen Sie Ihre Teilnahme daran, dass auch Menschen mit Behinderung als Expertinnnen teilnehmen.