Als Accessibility Consultant geht es nicht nur darum, über technische Entwicklungen informiert zu bleiben. Auch der Austausch mit der Behinderten-Community ist wichtig oder sollte es zumindest sein. Warum und wie, darum geht es in diesem Beitrag.
Die Barrierefreiheits-Community ist nicht die Behinderten-Community
Die Barrierefreiheits-Community und die Behinderten-Community sind voneinander zu unterscheiden, da die erste Gruppe primär aus Personen besteht, die sich beruflich, politisch oder gesellschaftlich für die Umsetzung von Barrierefreiheit engagieren, während die zweite Gruppe die Menschen umfasst, die von Behinderungen betroffen sind und von diesen Maßnahmen profitieren sollen.
Es gibt gewiss Überschneidungen zwischen den beiden Gruppen. Schwierig wird es aus meiner Sicht aber spätestens dann, wenn BF-Aktivistinnen anfangen, für Behinderte sprechen zu wollen, obwohl sie selbst keine Behinderung haben. Persönlich stehe ich dem Allyship-Konzept eher kritisch gegenüber, zumindest so, wie es heute viele BF-Consultants leben. Eine paternalistische Grundhaltung ist sehr oft anzutreffen.
Auch ist man nicht immer einer Meinung, wenn es um digitale Barrierefreiheit bzw. konkrete Anforderungen geht. Das heißt nicht, dass die behinderte Person mit ihrer Einschäzzung immer recht hat. Wie so oft im Leben ist es komplizierter.
Bedarfe und Perspektiven verstehen
Die Community behinderter Menschen weiß am besten, welche Herausforderungen und Bedürfnisse im digitalen Raum wirklich existieren. Durch den direkten Austausch lassen sich Lösungen entwickeln, die nicht nur theoretisch gut klingen, sondern auch im Alltag funktionieren. Dabei wird deutlich, wie vielfältig die Bedürfnisse sind – ob körperliche, sensorische oder kognitive Beeinträchtigungen. Der Austausch hilft, diese Unterschiede besser zu verstehen und Angebote zu schaffen, die wirklich für alle passen.
Um digitale Barrierefreiheit wirklich umzusetzen, braucht es ein Design, das sich an den echten Nutzungserfahrungen der Menschen orientiert, die es betrifft. Wenn man von Anfang an mit Betroffenen spricht, lassen sich Schwachstellen im Design früh erkennen und vermeiden. Gleichzeitig spielt die Community eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, Lösungen zu testen. Durch ihr Feedback zu Entwürfen und Prototypen kann man sicherstellen, dass die Ergebnisse tatsächlich barrierefrei und für alle nutzbar sind.
Empowerment und Kollaboration
Gemeinsames Engagement bringt Entwicklerinnen und Nutzerinnen näher zusammen. Wenn Betroffene aktiv einbezogen werden und merken, dass ihre Stimmen wirklich gehört werden, steigt die Bereitschaft, ihre Erfahrungen und ihr Wissen einzubringen. Durch Ko-Kreation können behinderte Menschen direkt an der Entwicklung mitarbeiten und ihre wertvollen Ideen einfließen lassen – so entstehen Lösungen, die wirklich funktionieren und die Bedürfnisse aller besser berücksichtigen.
Sensibilisierung
Der direkte Kontakt mit betroffenen Menschen hilft dabei, ein besseres Verständnis für Barrieren zu entwickeln, die auf den ersten Blick oft nicht sichtbar sind. Ohne diesen Austausch besteht die Gefahr, dass man Hindernisse oder Bedürfnisse nur aus der eigenen Perspektive beurteilt. Das kann schnell dazu führen, dass Lösungen entwickelt werden, die nicht wirklich passen oder sogar unbeabsichtigt diskriminierend wirken.
Verbesserung gesetzlicher und ethischer Standards
Richtlinien wie die WCAG (Web Content Accessibility Guidelines) oder der European Accessibility Act (EAA) wirken oft ziemlich abstrakt. Die Community kann dabei helfen, diese Standards greifbarer zu machen und Praxis-naher umzusetzen. Gleichzeitig geht es bei Barrierefreiheit nicht nur um Vorschriften – es ist auch eine Frage der ethischen Verantwortung, denn am Ende steht der Gedanke von Teilhabe und Gerechtigkeit im Mittelpunkt.
Die Community bietet eine wertvolle Möglichkeit, die eigene Expertise zu erweitern, indem sie Zugang zu Netzwerken, Ressourcen und Best Practices gewährt, die sonst schwer zu finden wären. Ein regelmäßiger Austausch sorgt zudem dafür, dass man immer auf dem neuesten Stand bleibt, was Entwicklungen und Bedürfnisse betrifft.6. Aufbau eines Netzwerks
Wege zum Austausch
Der einfachste Weg ist sicher Social Media: Plattformen wie BlueSky, Reddit, Facebook oder spezialisierte Foren bieten die Möglichkeit, sich Online-Communities anzuschließen und direkt mit Aktivist*innen und anderen Mitgliedern der Community in den Dialog zu treten.
Wer nicht so aktiv teilhaben möchte, findet Blogs, Youtube-Channels und weitere Möglichkeiten, sich zumindest informiert zu halten.
Daneben gibt es die Möglichkeit, vor allem in größeren Städten auch an Events teilzunehmen:
- Community-Veranstaltungen: Nehmen Sie an Veranstaltungen teil, die von oder für behinderte Menschen organisiert werden (z. B. Inklusionstage, Proteste oder kulturelle Events).
- Hackathons oder Design-Jams: Einige Initiativen veranstalten kollaborative Events, bei denen gemeinsam barrierefreie Lösungen entwickelt werden.
Partizipation ermöglichen
Daneben gibt es die Möglichkeit, behinderte Menschen aktiv in den Prozess einzubinden.
- Interviews mit Betroffenen durchführen.
- Nutzerforschung mit der Community: Laden Sie Menschen mit Behinderungen ein, an Usability-Tests oder Fokusgruppen teilzunehmen. Honorieren Sie ihre Zeit und ihren Input angemessen.
- Ko-Kreation fördern: Arbeiten Sie gemeinsam mit betroffenen Personen an der Entwicklung und Gestaltung von digitalen Produkten.
Wie sollte man sich als nicht-behinderte Person einbringen
Viele nicht-behinderte Personen trauen sich nicht, sich einzubringen, weil sie befürchten, Fehler zu machen. Dazu ein par Hinweise:
- Sprache bewusst wählen: Verwenden Sie respektvolle und inklusive Sprache, die die Würde der Menschen betont.
- Keine Annahmen treffen: Vermeiden Sie es, für die Community zu sprechen oder ihre Bedürfnisse zu pauschalisieren.
- Offenheit zeigen: Seien Sie bereit, Kritik anzunehmen und daraus zu lernen.
- Rollen respektieren: Die Community sollte als Expertin in eigener Sache betrachtet werden. Arbeiten Sie nicht „für“, sondern „mit“ ihnen.
- Wertschätzung ausdrücken: Anerkennen Sie die Expertise und den Beitrag behinderter Menschen in Projekten und Prozessen.
Kritische Balance bewahren
Es geht darum, Beziehungen auf Augenhöhe aufzubauen, zuzuhören und einen Raum zu schaffen, in dem behinderte Menschen aktiv eingebunden werden. Die Beschäftigung mit der Community sollte langfristig und nachhaltig angelegt sein – nicht nur als einmalige Aktion, sondern als kontinuierlicher Austausch, der von gegenseitigem Respekt geprägt ist.
Wie ich an anderer Stelle schrieb geht es nicht darum, dass jede Aussage eines behinderten Menschen immer richtig ist. Zwar muss man alle Perspektiven respektieren. In der Praxis ist es aber nicht möglich, allenWünschen nachzukommen. Digitale Barrierefreiheit hat bestimmte Anforderungen und Best Practices. Schwierig wird es, wenn es darüber hinausgeht oder es um individuelle Vorlieben geht.
Das liegt daran, dass sich Anforderungen einer Gruppe – zum Beispiel Sehbehinderter widersprechen können. Das gilt auch für Anforderungen aus zwei verschiedenen Gruppen wie Sehbehinderte und Neuro-Diverse. Interessant ist in dem Kontext, dass die einzig brauchbare Lösung in diesem Bereich, nämlich personalisierte Anpassungen, wie sie von Jakob Nielsen vorgeschlagen wurden von breiten Teilen der Barrierefreiheits-Community abgelehnt wurden. Freilich ohne brauchbare Ideen zu haben, wie man das Problem anders lösen könnte. Ich behaupte mal, dass ein Großteil der Behinderten-Community das anders sehen würde, wenn man sie fragen würde. Aber das tut man eben nicht. Weil man glaubt, alle Antworten in der WCAG zu haben.