Sehende müssen Papier lieben: Sie bedrucken Berge davon, schicken es hin- und her, scannen es ein, drucken es wieder aus, heften es ab, um es nie wieder anzuschauen.
Gerade Behörden haben ein Faible dafür, Papier zu verschicken, auch wenn es nicht um rechtssichere Infos geht und die Mail-Adresse eindeutig bekannt ist. Die sonst so knausrigen Behörden scheinen mit Vorliebe Geld für Porto und Druckertinte auszugeben.
Daran zeigt sich, wie weit weg wir von einer Digitalisierung sind. Vor nur 20 Jahren wäre es kaum denkbar gewesen, dass ein Großteil der Personen ihre Arbeit von zuhause macht: Es fehlte an Technik und Internetzugang. Doch wir könnten auch wesentlich weiter sein, wie Länder wie Estland zeigen. In diesem Beitrag soll es aber um die Chancen der Digitalisierung für behinderte Menschen gehen.
Was geht digital?
Natürlich waren wir alle nicht auf eine globale Pandemie vorbereitet. Andererseits waren wir spätestens seit Fridays for future angehalten, uns ökologischere Lösungen zu suchen. Der Reisezirkus der EU zwischen Straßburg und Brüssel ist so ein peinliches Beispiel. Doch müssen wir gar nicht so weit schauen, einen ähnlichen Unsinn finden wir zwischen alter und neuer Hauptstadt in Deutschland. Zehntausende von Menschen fliegen für kurze Termine zwischen A und B hin und her.
Aber selbst diejenigen, die etwas davon verstehen tun sich mit der Digitalisierung schwer. Die Republica zum Beispiel, sie nennt sich gerne auch große Internet- oder Digital-Konferenz. Aber sie tun sich schwer darin, eine Online-Konferenz auf die Beine zu stellen, obwohl dafür der logistische Aufwand wesentlich geringer ist als für eine Präsenzkonferenz. Gewiss ist das technisch eine große Herausforderung. Aber es ist immer noch wesentlich weniger Aufwand als eine Präsenzveranstaltung mit mehreren tausend Personen.
Kleinere Veranstaltungen wie die Beyond Tellerrand ließen sich, behaupte ich einmal kühn, problemlos digitalisieren. Natürlich müssen die Konzepte angepasst werden. Vorträge vor einem Bildschirm zu halten ist auf jeden Fall gewöhnungsbedürftig. Aber es ist auch kein Hexenwerk. Der O’Reily-Verlag zum Beispiel verkündete jüngst, er wolle nur noch Online-Meetings abhalten.
Nebenbei ließe sich damit ein großes Problem lösen: Viele Veranstaltungen finden in der Pampa statt, sprich, man muss ein- bis zwei Mal vom nächsten großen Bahnhof umsteigen. Das ist für behinderte Menschen eine Herausforderung und für Gesunde zumindest ein Ärgernis. Aber die Großstadt ist deutlich teurer, was Unterkünfte und Veranstaltungsräume angeht. Das heißt, gerade Low-Budget-Veranstaltungen können nicht zentral stattfinden, wenn sie keinen großzügigen Sponsoren finden.
Mentale Barrieren abbauen
Der Widerstand gegen die digitale Kommunikation ist enorm. Dabei habe ich digitale Meetings häufig als produktiver als Face 2 Face empfunden: Die Agenda wird strenger befolgt, es gibt weniger abrupte Themenwechsel, weniger Alphamännchen-Gehabe, die Sitzungen sind zumeist kürzer und disziplinierter. Klar gibts technische Probleme und der 3-jährige plärrt mal dazwischen. Aber bei Präsenz-Meetings läuft ja immer alles glatt, der Beamer funktioniert auf Anhieb mit dem Notebook, alle sind immer pünktlich da und es finden auch nie laute Bauarbeiten statt…
Natürlich weiß ich um den Wert persönlicher Begegnungen. Ja, der persönliche Kontakt, war, ist und wird immer wichtig bleiben. XING, Facebook und Co. werden diesen Kontakt nicht überflüssig machen.
Aber, und das ist ein großes Aber: Der persönliche Kontakt ist nicht alles. Er muss gegen die persönlichen, ökonomischen und ökologischen Kosten aufgewogen werden. Kaum jemand hat seine Lebensfreude an einem Bahnhof, in einem Flughafen oder einem Hotelzimmer gefunden. Sechs- oder siebenstellige Reise-Budgets bessern die Bilanz sicher nicht auf. Nebenbei wundere ich mich, dass die ansonsten so knausrigen öffentlichen Kassen diesen Reisezirkus finanzieren. Und natürlich die Umwelt, auch sie nimmt Schaden durch immer mehr Flugreisen, Bahnstrecken, Straßen und dem Verkehr, der auf ihnen stattfindet. Eine Organisation kann sich nicht ernsthaft umweltbewusst nennen, wenn sie diesen Unsinn zulässt. Atmosfair ist, als würde man jemandem ins Gesicht schlagen und ihm hinterher einen Eisbeutel gegen die Schwellung reichen.
Ich behaupte, dass der Widerstand gegen digitale Lösungen vor allem mental bedingt ist und dass ein Großteil der heutigen Präsenz-Termine sich digital abwickeln ließe.
Nehmen wir ein plastisches Beispiel: Die Gamer haben diese digitale Revolution schon vorweggenommen. Seitdem es die digitale Vernetzung gibt, kommunizieren sie global. Wer halbwegs Englisch kann – oder es lernen will – spielt eines dieser Online-Games. Kurioserweise haben diese Leute wohl die wenigsten Probleme damit, #stayathome zu befolgen, sie wüssten wahrscheinlich gar nicht, dass es dabei ein Problem geben könnte. Darüber entstehen Freundschaften, obwohl sich die Betreffenden wahrscheinlich nie persönlich treffen werden.
Was hat das mit Barrierefreiheit zu tun?
Natürlich eine ganze Menge. Live-Streamings sind ganz nett, um von zuhause aus was mitzubekommen. Aber zuschauen und dabei sein sind zwei Paar Schuhe.
Sprechen wir einmal über nicht-digitale Barrieren: Geld ist eine davon, Entfernung, Fahrzeit und Übernachtung an fremden Orten ist ebenfalls eine Barriere. Viele behinderte Menschen können Präsenz-Veranstaltungen deshalb nicht besuchen.
Ein spannendes Thema sind auch kommunikative Barrieren: Digitalisierung macht es möglich, dass Vortrag an Ort A stattfindet, der gehörlose Teilnehmer an Ort B und der Gebärdensprach-Dolmmetscher an Punkt C ist. Selbiges gilt natürlich für Übersetzungen in Leichte Sprache.
Chancen der Digitalisierung für behinderte Menschen
Viele Menschen mit einer psychischen oder chronischen Erkrankung können keiner geregelten Arbeit nachgehen. Sie haben Schübe, in denen sie nicht arbeiten können und niemand kann sagen, wann so ein Schub kommt. Mit regulären Arbeitszeitmodellen ist das aber nicht vereinbar.
Für sie wäre Heimarbeit eine Chance, doch einer geregelten Tätigkeit nachzugehen. Sie könnten zum Beispiel ein bestimmtes Arbeitspensum vereinbaren, welches sie abarbeiten, wenn sie sich gut fühlen.
Auch für andere behinderte Menschen ist Heimarbeit eine Chance. Für Blinde zum Beispiel ist Pendeln mit den Öffis eine Herausforderung, ebenso wie für andere mobilitäts-eingeschränkte Personen.
Und vergessen wir nicht die Gruppe, die bei COVID19 im Vordergrund steht, die Menschen mit einem geschwächten Immunsystem, für die ein kleiner Infekt lange Krankheit oder Tod bedeuten kann. Ich bezweifle, dass sie sich in voll besetzten Intercitys oder Flugzeugen schon vor der Corona-Krise besonders wohl gefühlt haben.
Auch ein Studium oder eine Berufsausbildung könnten auf diesem Wege absolviert werden. Leider fehlt es dem Staat bisher an der nötigen Flexibilität, es ist dieser Kult um physische Präsenz, der Innovationen ausbremst.
Oder bleiben wir bei meinem Lieblingsthema: Papier. Zwar kann man mittlerweile einen schnellen Scan mit dem Smartphone machen. Dennoch weiß man als Blinder nie, was man da eigentlich unterschreibt. Das Ganze digital abzuwickeln würde uns viel von dieser Sorge nehmen. Und es gibt noch unzählige weitere Beispiele.
Voraussetzung ist natürlich immer, dass die Bedingungen zuhause passen. Die Technik muss ausreichend sein, das Internet schnell genug, es muss ein geeigneter Raum zur Verfügung stehen.
Ebenso muss natürlich die verwendete Technik barrierefrei sein, wenn die Person darauf angewiesen ist. Viele der Konferenz-Lösungen sowie der Tools zum Zugriff auf die Firmen-Infrastruktur sind das leider nicht.
Corona ist eine Chance
Ich bin ja kein Fan von Kalendersprüchen a la „Krise als Chance“. Das wäre bei der Corona-Krise und ihrer dramatischen Folgen für die Betroffenen auch nicht angemessen.
Dennoch bleibt zu hoffen, dass die Krise der Digitalisierung einen Schub gibt. Denn bisher bleibt Deutschland weit hinter anderen Ländern zurück und bremst damit auch die Barrierefreiheit aus.